‚Ein anständiger Aufstand‘ vor 20 Jahren in Nordhausen – Eine rückblickende Presseschau

Demoplakat ‚Antifaschistisch leben, handeln, kämpfen‘ in Nordhausen am 2.12.2000

Der Weg zum politischen Menschen, dem zumindest bisher nicht die Zurichtung auf einen Menschen der Politik widerfuhr, ist nicht selten gezeichnet von Stolperpfaden, Barrikaden und so manchen Scharaden. Gelegentlich einen intensiven Blick in diese Vergangenheit zu wagen hilft, sich der tieferen Beweggründe aktueller Interessenlagen und Handlungsmotivationen gewahr zu werden. Anlässlich des 20. Jubiläums eines rasanten politischen Zerfallsprozesses…

Vor exakt 20 Jahren fand in Nordhausen eine von der Antifaschistischen Aktion Südharz (AAS) organisierte Gegendemonstration zum Aufmarsch der NPD statt. Das Antifainfoblatt berichtet anschließend von einer durch „brennende Barrikaden“ und anderen Blockaden versperrten Route sowie von „einem verkürzten Aufmarsch und zwei Stunden Verspätung“ für die rund 300 Neonazis (http://www.antifainfoblatt.de/artikel/widerstand-gegen-marschierende-neonazis).

Dieser Gegendemonstration war eine Woche zuvor, also am 2.12.2000, die mit über 1000 Teilnehmer*innen bis heute größte antifaschistische Demonstration in der nordthüringischen Kleinstadt vorausgegangen, welche ebenfalls von der AAS, welche damals eng verbunden war mit der Autonomen Antifa M aus Göttingen, organisiert wurde. Sie fand unter dem Titel ‚Antifaschistisch Leben Handeln Kämpfen‘ statt und war Teil jener letzten ‚Antifa-Offensive‘ der Antifaschistischen Aktion/Bundesweite Organisation (AA/BO), die antifaschistische Politik auch in die häufig von rechter Hegemonie geprägte Provinz im Osten der Republik transportieren sollte. Ziel war es in die Offensive zu gehen und so die reaktiven Handlungsmuster aufzubrechen, welche sonst stets nur die Aktionen der Neonazis zu behindern versuchten. In Nordhausen wurden damals einerseits sozial- und geschichtspolitische Forderungen aufgestellt. Andererseits versuchte man sich von staatlichen Vereinnahmungs- und Kriminalisierungsstrategien der rot-grünen Politik in Form eines ‚anständigen Aufstands‚ zu distanzieren, welche mit dem ‚Aufstand der Anständigen‘ jegliche systemtranszendierende Energie sowie Kritik an der Agenda 2010 einhegte. Der damalige Demoaufruf umreißt auch im Rückblick das Problem noch recht passend. Dort heißt es eingangs:

„Nordhausen ist eine der typischen (Ost)Kleinstädte, die wie viele ein großes Potential an rechtsextremistischen Personenkreisen aufweist und somit als Sammelbecken für rechtsextremistische Umtriebe aus der Umgebung gilt. Die Situation und dessen Auswirkungen ist keine Entwicklung der letzten Monate sondern Realität schon seit Jahren und birgt zugleich die politische Unfähigkeit der Stadt und regionaler Politik, charakterisiert das jahrelange Wegsehen, Ignorieren und Todschweigen. Das städtische ‚Jugendkonzept‘ ist schon längst vor dem Baum gefahren. Antifaschistische, antirassistische und alternative Initiativen und Strömungen sind völlig alleingelassen und durch die ‚akzeptierende Jugend-und Sozialarbeit‘ ausgegrenzt wurden, dagegen rechte Gesinnung hofiert und legalisiert. So gibt es mittlerweile keine alternativen Jugendclubs, keine städtischen Jugendprojekte oder Förderungen die die so oft, im Zuge der ‚Deutschland-Einig-Antifa‘ – Welle, zitierten Zivilcourage fördern. Stattdessen werden von Faschos ganze Stadtteile feierlich als ’national befreite Zonen‘ deklariert und Übergriffe auf z.B. Andersdenkende, Punker, Alternative, Jugendclubs und Einrichtungen reihen sich nahtlos in die Chronik der rechten Gewalttaten ein und werden zum Stück trauriger Normalität. Die rechte Hegemonie im Alltag lässt sich noch beliebig an 1000 Beispielen verdeutlichen. […] Für die Stadt ist aber alles friedlich, alles still, alles super…“ (https://www.nadir.org/nadir/initiativ/aam/2000/ndh/index.htm )

Ohne hier mit einer besonderen Sentimentalität gegenüber dem damaligen  Aktionismus aufwarten zu wollen, muss dennoch konstatiert werden, dass die Ereignisse im Jahr 2000 für mich und viele meiner Freund*innen eines unserer zentralen Politisierungsmomente darstellten. Schaut man sich die noch heute überlieferte Berichterstattung an, wundert es kaum, dass auch jene damals nichtorganisierten und lediglich anpolitisierten jungen Menschen – wie ich – nicht nur von der staatlichen Repression (etwa die unverhältnismäßigen Eingriffe in die Grundrechte bei den Hausdurchsuchungen im Vorfeld aufgrund von antifaschistischen Spühereien in der Stadt; https://www.nadir.org/nadir/aktuell/2000/11/30/1704.html), sondern auch von der allzu offensichtlichen Parteilichkeit der Lokalpresse entsetzt waren. Bereits im Vorfeld der Demo vom 2.12. hatte die AAS mit zahlreichen weiteren Kriminalisierungen (unverhältnismäßige Demoauflagen etc.) und Verleumdungen zu tun. Die ‚Neue Nordhäuser Zeitung‘ reproduzierte zudem in ihrer Vorberichterstattung das Bild einer zu Unrecht in den Fokus gelangten Kleinstadt ganz typisch in Formen der Schuldabwehr. So sollte „die AAS doch wohl lieber in Göttingen auf die Straße gehen“, wo sich ihr zufolge die „Zentrale der AAS“ befand (https://www.nnz-online.de/news/news_lang.php?ArtNr=509). Die Rhetorik verrät, dass der*die Autor*in hier selbst gedanklich noch der Blockkonfrontation aufsaß. Der Qualitätsjournalismus setzte sich am Tag der Demo in gleicher Weise fort: „Nordhausen erlebte jedenfalls eine Polizeipräsenz wie nie zuvor. Doch das soll nicht als negativ beurteilt werden. Angesichts eines solchen Aufgebotes der Staatsmacht war wohl allen Autonomen der Spaß an Krawallen vergangen.“ Nicht nur Autoritätsbindung und Straflust kommen hierdurch zum Vorschein, sondern ein in Infantilisierungsrhetorik gewandter Paternalismus: „Radikale Sprüche einer radikalen Minderheit unter Göttinger Anleitung […] gegen den Kapitalismus. Die, die das brüllten, waren dann zum großen Teil gerade der Konfirmation oder der Jugendweihe entkommen und hätten an diesem sonnigen Dezembernachmittag wohl eher zur Teenie-Disko gehen sollen.“ (https://www.nnz-online.de/news/news_lang.php?ArtNr=3255) Für jemand wie mich, der damals zufällig wirklich gerade „der Jugendweihe entkommen“, der nicht nur in Schule und Jugendzentrum regelmäßig mit Neonazis, sondern auch zu Hause mit einem politischen Opportunismus seiner Eltern konfrontiert war, waren sowohl die durch diese Demonstration aufgeworfenen Probleme als auch die politische wie mediale Bagatellisierung nicht nachvollziehbar. Die gebetsmühlenartige Wiederholung am Ende eines jeden dieser Artikel, wonach die friedliebenden Nordhäuser*innen stets in dankender Eintracht mit der Staatsmacht stünden, löste in mir schon damals jene Abwehrreflexe aus, die ich später immer wieder aufgriff.

In einer Zeit als der Thüringer Heimatschutz und bereits der NSU im immer brauner gefärbten Herzen Deutschlands wüteten, schaffte es diese Lokalpresse stets auf Neue die rechte Bedrohung herunterzuspielen und dabei die Ankläger*innen dieser ostdeutschen Zustände zu entmündigen: „Auch in Nordhausen soll es einen nationalen Widerstand geben, auch in Nordhausen werde die rechte Gefahr verharmlost, so eine Sprecherin, pardon, Aktivistin der Antifa“ (https://www.nnz-online.de/news/news_lang_druck.php?ArtNr=2038), heißt es noch im anschließenden Sommer. Am 28.7.2001 wurde die sozialpolitische Forderung nach einem „alternativen und unabhängigen Jugendzentrum“ (Ebd.) erneut aufgegriffen. Man kann der Region schwerlich seine geistige wie ökonomische Rückständigkeit vorwerfen, die sich im Zuge der Systemtransformation einstellte. Die nachholende Entwicklung zeigte sich bspw. darin, dass weder die politischen Eliten noch die Presse seinerzeit etwas von demokratischer Protest- und florierender Jugendkultur verstand, wie es sie etwa in der BRD der 1970er Jahre im Zuge der Jugendzentrumsbewegung gab. Demnach konnte scheinbar einzig mit Systemimmanenz auf jegliche Störung im Getriebe reagiert werden: „So richtig, Ihr lieben gewaltlosen Linken, wird das alles aber nicht klappen mit dem Jugendzentrum. Wer soll denn zum Beispiel die Miete bezahlen, wer die Betriebskosten, wer die Einrichtung? Und dann werdet ihr sicher nicht überall mit offenen Armen empfangen. Denn wer die – zwar friedliche – aber dennoch illegale Besetzung der ehemaligen Polizeidirektion am Pferdemarkt als Geniestreich feiert, der hat wirklich nicht begriffen, nach welchen Regeln eine Gesellschaft, zumindest die aktuelle, funktioniert.“ (https://www.nnz-online.de/news/news_lang_druck.php?ArtNr=2038) Autoritarismus und Ordnungsfetischismus hatten genügend Zeit sich in die Tiefenschichten des Bewusstseins der Nordhäuser*innen hineinzugraben und dort festzusetzen.

Mit diesen Demonstrationen war nicht nur die kurze Hochphase antifaschistischer Politik in Nordhausen vorbei. Im selben Jahr 2001 wurde sogleich auf dem Antifa-Kongress ‚Das Jahr, in dem wir Kontakt aufnehmen‘ in Göttingen nach fast zehnjährigem Bestehen das Ende der AA/BO besiegelt. Es dauerte einige Jahre, bis in Nordhausen überhaupt wieder eine nennenswerte außerparlamentarische Linke entstand, die sogleich nicht mehr an einer Kritik am Kaderkommunismus und Antiimperialismus vorbei kam. Letztlich hat sich die antifaschistische Politik jedoch nie mehr wirklich erholen können und wurde weitestgehend von einer rechten Hegemonie abgelöst. Bis heute eine unabgeschlossene Phase unserer Jugend.


Die Totalität des Rassismus und die Schweigsamkeit seitens der „Ideologiekritik“

Wenn die gegenwärtige Gesellschaft nicht mehr (auch) als rassistische erkannt wird, dann kommt in der eigenen Geschichte der „Ideologiekritiker_innen“ ein kathartisches Moment zum Tragen. Die Reinigung der verwendeten Begriffe und das Aufgeben der Selbstreflexion im Zuge der eigenen Praxis führen zu einer Blindheit gegenüber Rassismus
in der Gegenwart.

Rassismus ist tödlich und das überall: Hanau, Halle, Kassel oder irgendwo anders in Deutschland und seien es NSU 1.0 oder 2.0 oder organisierte Banden wie Polizei und Bundeswehr. Die gegenwärtig anhaltenden Black Lives Matter Proteste haben nochmals anklagt, wie rassistisch die gegenwärtige Gesellschaft ist –  Ideologiekritik als Linke versagt hier vollständig.

Jene Personen oder Gruppen, die als „Ideologiekritiker_innen“ bezeichnet werden können, verharren mit ihrem Rassismusbegriff in jenen Denkmustern, die in Debatten der 1990er Jahre ihren Ausgangspunkt nahmen. Den Rassismusbegriff haben sie in Form einer Historisierung aus ihrem aktuellen Denken entsorgt, zurück bleibt ihre Schweigsamkeit gegenüber dem alltäglichen Rassismus der gegenwärtigen Gesellschaft. An einigen Autoren lässt sich die Abkehr der „Ideologiekritik“ vom Denken über den Rassismus paradigmatisch aufzeigen. Diese Abkehr fand ihren Anfang im Konkret-Kongress „Was tun?“ im Jahr 1993 mit dem Beitrag von Christoph Türcke und findet ihren Höhepunkt in Clemens Nachtmanns „Rasse und Individuum“ von 2009. Während Nachtmann unter Bezug auf 1993 noch vorgab, „einen konsistenten Begriff des Rassismus“ auf materialistischer Grundlage zu besitzen, geht ihm 2009 dieser Anspruch gänzlich verloren.

Nachtmanns Text ist wegweisend, weil er behauptet, dass es gegenwärtig keinen Rassismus mehr gebe, sondern lediglich Fremdenfeindlichkeit. „Fremdenfeindlichkeit“ ist für ihn eine Bewusstseinsform moderner Subjektivität, in der sich die Verarbeitung der kapitalistischen Konkurrenzsituation niederschlägt. Rassismus ist bei ihm eine antiquierte, weil rein biologisch begründete Fremdenfeindlichkeit, die gemeinsam mit den wissenschaftlichen Rassetheorien seit Mitte des letzten Jahrhunderts keine gesellschaftspolitische Relevanz mehr besäße. Zwar existiere er weiterhin fort, habe sich jedoch mit der spätkapitalistischen Produktion, die auf diese biologischen Kategorien längst nicht mehr angewiesen sei, unlängst selbst überholt. Während Nachtmann 1993 noch für einen „anderen Anti-Rassismus“ plädierte, ist für ihn anderthalb Jahrzehnte später daran „nichts zu retten, nichts zu beerben […]: Um es kurz und schmerzhaft auszudrücken: ‚Rassismus‘ ist ein ideologisches Stichwort eines anti-rassistischen Rackets, das jeden Realitätsbezugs entbehrt“. Dies spricht nicht nur allen Opfern rassistischer Gewalt Hohn, er verabschiedet sich bereits hier von einer Kritischen Theorie des Rassismus, wie sie etwa Detlev Claussen 1994 umrissen hat.

In solch vermeintlicher Ideologiekritik ist ein reduktiver  Materialismus am Werk, der auf das bürgerlich-kapitalistische Versprechen reinfällt, alle Menschen nur nach ihren Arbeitsleistungen zu beurteilen. Sowohl Türcke als auch Nachtmann benutzen „Hautfarbe“ zur Legitimation ihrer Historisierung: Sie erkennen Naturtatsachen an, um durch sie den Rassismus wie den Antirassismus im gleichen Atemzuge entsorgen zu können. Nachtmann sitzt damit dem Fortschrittsglauben des Kapitalismus insofern auf, als dass dieser die Überwindung der „ersten Natur“ (das Körperliche, aber auch „natürliche“ familiäre Abhängigkeitsverhältnisse) verspricht, ihre „Aufhebung“ in der „zweiten Natur“ (gesellschaftliche Verhältnisse) jedoch verkennt. Er übersieht durch seine historisierende Fixierung auf „Hautfarbe“, dass weder die „erste Natur“ nur historisch zu begreifen ist, noch dass von ihr ohne weiteres abstrahiert werden kann.

Rassismus ist eben auch ein (bewusster wie unbewusster) Verdeckungszusammenhang für ökonomische wie soziale Verwerfungen. Richtig ist, dass nicht überall, wo „Rassismus“ vermutet wird, dieser auch drin steckt. Höhnisch ist jedoch, dass durch den Fokus auf Kritiker_innen des Rassismus eine Fokusverschiebung weg von den ihm zugrundeliegenden materiellen Gewalt- und Herrschaftsverhältnissen stattfindet, die diese nur reproduziert. Der biologische Rassismus ist weiterhin existent, wie das „racial profiling“, die erhöhte Wahrscheinlichkeit als „schwarze“ Person oder PoC von Polizist_innen erschossen zu werden und der Check des „Migrationshintergrundes“ – der in Stuttgart und jüngst auch in Hamburg als Stammbaumforschung daherkam – als gängige Polizeipraktiken aufzeigen. Und auch im alltäglichen kapitalistischen Konkurrenzkampf wird offen und verdeckt rassistisch begründet, warum eine bestimmte Person bspw. für einen Job oder eine Wohnung als „geeignet“ gilt und eine andere nicht – „Qualifikation“ ist eben nicht, wie die bürgerliche Ideologie verspricht, nur „Bildungs“-Sache. Sowohl dezidiert biologistische als auch verdeckt kulturalistische Muster kommen dabei immer wieder zum Tragen.

Nachtmann verkennt die Dialektik von Allgemeinen und Besonderem, Logischem und Historischem sowie Aufklärung und Gewalt im Kapitalismus – und er ist damit nicht allein. Die Gründe für die Schweigsamkeit und Ignoranz gegenüber dem Rassismus lassen sich gerade auch in den jüngeren Positionen der „Ideologiekritik“ aufzeigen:

1. Dialektik: Zahlreiche ideologiekritische Texte beziehen sich ungebrochen und emphatisch auf Begriffe wie „Vernunft“, „Wahrheit“, „Freiheit“, „Universalismus“, „Bürgerlichkeit“ und „Gleichheit“. Würden sie die Dialektik der Aufklärung berücksichtigen, so beinhalten diese Begriffe zwar alle ein emanzipatorisches Versprechen, doch im Kolonialismus und im Rassismus wird mit ihnen zugleich Politik gegen das „unwerte“ bzw. das auszubeutende Leben gemacht. Diesen Begriffen ist Herrschaft – und das zeigen nicht erst die postkolonialen Theorien – immanent. Seit jeher waren sie auch Instrumente „weißer“ und westlich-kapitalistischer Vormachtstellung und ihrer Unterdrückungspraktiken, die sich parallel zu vormodernen Herrschaftsformen entwickelten. So legitimierte sich die Sklaverei im imperial-kolonialistischen Kapitalismus in Form pseudowissenschaftlicher Objektivierung zwar auf andere Weise, jedoch zeitgleich zu jenen Formen im afrikanischen und arabischen Raum. Ganz im Sinne einer Dialektik der Aufklärung bedurfte es einer neuen Wissenschaft der „Rassen“, um zu begründen, warum der Phänotyp das entscheidende Merkmal ist, um eine unterschiedliche Behandlung von Menschen zu legitimieren, obwohl diese doch alle gleich seien.

2. Identitätspolitik: Obwohl die „Ideologiekritik“ immer wieder Identitätspolitik kritisiert, macht sie nicht selten genau diese. Sie hat einen identitäts- und gruppenbildenden Reflex gegen den Antirassismus entwickelt, der sich durch eine halbgebildete Aversion gegen alle postkoloniale Theorie begründet. So wird antirassistische Politik mit ihrem vermeintlich „positiven“ Rassismus und einer „regressiven Identitätspolitik“ kritisiert, ohne jedoch einen eigenen dialektisch-materialistischen Begriff von Rassismus entwickelt zu haben. Dabei müssen sie sich durch ihre Identitätskonstruktion nicht eingehender mit dem Thema beschäftigen und fühlen sich bestätigt darin, Tabus zu brechen und als furchtlose Kritiker_innen in ihrer eigenen Ideologie und damit unbeweglichen Identität zu verharren.

3. Reinigung: Das Bedürfnis, sich der Auseinandersetzung mit den seit Jahrhunderten fortbestehenden zentralen Ausschließungs- und Unterdrückungsformen wie Rassismus oder Sexismus zu entledigen oder sie zu bagatellisieren, verweist auf den Versuch, sich von der eigenen relativen Unbestimmtheit, wie sie etwa Nachtmann an seiner Positionierung zum Antirassismus exemplarisch zeigt, freizumachen. In der obsessiven Haltung, sich die besonders skandalösen Erscheinungsformen antirassistischer und antisexistischer Kämpfe herauszupicken und sie als hegemonial darzustellen, nur um sie anschließend abzukanzeln, tritt diese doch sehr männliche Form des Vergangenheitsrecyclings offen hervor. Trotz bewegungshistorischer Bedeutung, die jenen Ideologiekritiker_innen in den Auseinandersetzungen um den Antisemitismus zukam, hat dieser Fokus nicht nur zu einer relativen Blindheit gegenüber anderen Formen von Herrschaft geführt, sondern auch ihren eigenen Antisemitismusbegriff disqualifiziert – ihre Kritik am Antisemitismus ist instrumentell: Nicht nur das kompetitive Ausspielen von Rassismus und Antisemitismus, sondern etwa auch Thomas Mauls Kokettieren mit der AfD zeigen, dass sich auch beim Antisemitismus eher den eigenen philosemitischen Projektionen auf Israel und Judentum als den in Deutschland in all ihrer Widersprüchlichkeit lebenden Juden und Jüdinnen zugewendet wird.

Während Nachtmann die spätkapitalistische Form des Rassismus verneint und verkennt,  wird sie bei Claussen unter Bezug auf „Ethnizität“ herausgestellt. Demnach funktioniert Rassismus durch die zugeschriebene Zugehörigkeit zu einer „Ethnie“ und macht aus dieser eine soziale Vererbung. Rassifizierte Personen erhalten dabei feste und unüberwindbare Charaktereigenschaften, Verhaltensweisen, Sprachen, Glaubens- oder Wertvorstellungen (also alles, was gemeinhin als „Kultur“ bezeichnet wird), die so zu Kollektiveigenschaften gemacht werden. Dieser Begriff des Rassismus funktioniert, ohne dass Rassist_innen explizit auf ‚Rasse‘ rekurrieren müssten.

Demgegenüber gleicht Nachtmanns Argumentation – wertkritisch betrachtet – dem orthodoxen Marxismus in umgekehrter Zielstellung: Bei orthodox-marxistischen Linken wird das Konkrete des Warencharakters und Kapitalverhältnisses wie der Gebrauchswert einer Ware (bspw. seine Funktion, Zweck) oder die Arbeit als Selbstzweck verabsolutiert. Das Konkrete wird projektiv und politisch aufgeladen in Form von revolutionären Subjekten wie dem „Arbeiter“ oder den „unterdrückten Schwarzen“. Bei Nachtmann findet umgekehrt eine Reinigung bzw. Historisierung von jeglichem Konkreten statt. Er untersucht den Kapitalismus einzig in seiner abstrakten und idealistischen Funktionslogik und sitzt ihr damit auf, ohne sich für seine alltägliche und damit eben auch rassistische Funktionsweise zu interessieren. Dass sich bereits in der Ware mehr als nur „reine“, d.h. analytisch-empiristisch erfassbare Arbeitskraft materialisiert und dass sich dadurch die Dialektik des Werts eben nicht einseitig positiv in Gebrauchs- oder Tauschwert auflösen lässt, ist seit Marxens Fetischcharakterkapitel im Kapital und Postones Kritik an einem transhistorischen Arbeitsbegriff für eine kritische Gesellschaftstheorie Stand der Erkenntnis. Eine „Ideologiekritik“, die hierhinter zurückfällt ist keine.

Eine materialistische Auseinandersetzung mit dem Rassismus ist und bleibt gegenwärtig notwendig. Sie eröffnet Einsichten, die über postkoloniale Theorien hinausweisen. Obwohl der Kapitalismus von konkreten persönlichen Merkmalen wie „Hautfarbe“, „Geschlecht“ oder Klassenzugehörigkeit vermeintlich abstrahiert, weil es erstmal egal ist, wer eine Ware herstellt, ist er zugleich immer konkret in seinen Erscheinungsformen, so dass die genannten Merkmale weiterhin als behauptete quasi-natürliche im Alltag eine zentrale Rolle einnehmen. Denn nicht jede_r darf arbeiten, eine bestimmte Ware herstellen oder kaufen. Eigentums- und Abhängigkeitsverhältnisse werden auch im globalen Maß als Folge des Kolonialismus, wie etwa Dennis Schnittler (im Sammelband „Freiheit ist keine Metapher“) aufzeigt, „vererbt“ – insofern ist der Kapitalismus zugleich allgemein und besonders. Aufgabe der Ideologiekritik wäre es offenzulegen, wie beides miteinander vermittelt ist.

von Achard Rieus und Giorgio Banani (erschienen in Transmitter 11/2020)

Hier einige Texte, auf die wir uns im Text beziehen und solche, die wir darüber hinaus diskussionswürdig finden:

Adorno, Theodor W. & Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main 2003.

Arnold, Sina: Which side are you on? Zum schwierigen Verhältnis von Antisemitismus und Rassismus in der Migrationsgesellschaft. In: Foroutan, Naika; Geulen, Christian; Illmer, Susanne; Vogel, Klaus & Wernsing, Susanne (Hg.): Das Phantom ‚Rasse‘: Zur Geschichte und Wirkungsmacht von Rassismus. Schriften des Deutschen Hygiene-Museums Band 13. Wien 2018.

Claussen, Detlev: Was heisst Rassismus? Darmstadt 1994.

Fischer, Michael: Die neue Rassenlehre. Moderne Rassenideologie im antirassistischen Gewand. In: Bahamas Nr. 85, 2020.

Foucault, Michael: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France 1975-1976. Frankfurt am Main 2001.

Küpeli, Ismail: Feindschaft gegen Muslime: Rassismus in Zeiten der Krise. http://kupeli.blogsport.eu/2011/11/11/feindschaft-gegen-muslime-rassismus-in-zeiten-der-krise/ (zul. akt. 30.10.2020) 2011.

Nachtmann, Clemens: Rasse und Individuum. In: Bahamas Nr. 58, 2009.

Nichtidentisches.de: „Antirassismuskritik“ und Critical Whiteness – ein dialektisches Verhältnis. http://nichtidentisches.de/antirassismuskritik-und-critical-whiteness-ein-dialektisches-verhaeltnis/ (zul. akt. 30.10.2020) 2019.

Phase2: Weißabgleich. Nr. 51, 2015.

Türcke, Christoph: Vortrag »Inflation des Rassismus« beim Konkret-Kongress. In: Schneider, Wolfgang & Gröndahl, Boris (Hg.): Was tun? Über Bedingungen und Möglichkeiten linker Politik und Gesellschaftskritik. Hamburg 1994.

Vukadinović, Vojin Saša (Hg.): Freiheit ist keine Metapher. Antisemitismus, Migration, Rassismus, Religionskritik. Berlin 2018.


Zur Schuldabwehr des Nationalsozialismus durch den Ausschluss der Kritischen Theorie aus der deutschen Erziehungswissenschaft

„Im Rückblick auf die Nachkriegsgeschichte der westdeutschen Pädagogik will es so scheinen, als sei diese spät, aber dafür umso entschlossener aus ihrer geisteswissenschaftlich bestimmten Tradition herausgesprungen und habe sich, nahezu unvermittelt, der kritischen Gesellschaftstheorie bemächtigt. Der Eindruck der Verspätung wie des Tabubruchs ist deshalb berechtigt, weil sowohl die akademische Pädagogik wie die Institutionen des Erziehungs- und Bildungswesens bis in die sechziger Jahre hinein nahezu unangefochten darum bemüht waren, ihre alten, durch den Nationalsozialismus und Krieg verwirrten Fäden wieder aufzunehmen und die historische Kontinuität in Theorie und Praxis wiederherzustellen. Die kritische Auseinandersetzung mit dem, was später die Restaurationsperiode genannt wurde, war darin keinesfalls angelegt. Vielmehr wurde der Kontakt zu radikal kritischen Positionen gemieden – zur sozialistischen Pädagogiktradition der Weimarer Republik (Hörnle, Bernfeld u.a.) ebenso wie zur Kritischen Theorie der Frankfurter Schule. Die Ignorierung der sozialistischen Pädagogik durch die bürgerliche ist dabei wenig überraschend, auch das gehört zur Wahrung ihrer Kontinuität; die Eliminierung des sozialistischen Gegners durch den Faschismus konnte von ihr schwerlich als Verlust empfunden werden. Anders steht es mit dem Tabu über der Kritischen Theorie, die der bürgerlichen, zumal geisteswissenschaftlichen Pädagogik bei aller Differenz in der Sache doch dem akademischen Habitus wie der Tradition und Thematik nach hätte näher stehen müssen. Dies läßt sich nicht allein aus dem antikommunistischen Affekt der Adenauer-Ära erklären […]. Daß die Erziehungswissenschaft sich der Kenntnisnahme der Kritischen Theorie so lange verschloß und gleichsam deren Exil um über ein Jahrzehnt verlängerte, verweist [dar]auf […], diese Ignoranz auch als Symptom der Schuldabwehr zu verstehen, der Abwehr von Schuld sowohl aus vergangenem Versagen in Theorie und Praxis wie aus der fortwährenden Unentschlossenheit, mit den gesellschaftlichen Voraussetzungen des Faschismus kompromißlos zu brechen. […] Die Kritische Theorie hatte während des Exils wie danach ihre ganze Anstrengung darauf gerichtet aufzudecken, daß der Faschismus nicht als fremde Macht über die deutsche Gesellschaft hereinbrach, sondern vielmehr ihren sozialökonomischen, psychologischen, pädagogischen und geistigen Verhältnissen entsprang. Abzuwehren war also für die bürgerliche Pädagogik nicht nur der Vorwurf persönlicher Schuld oder individueller Verblendung manch ihrer Vertreter. Abzuwehren war vor allem der in der Kritischen Theorie ausgesprochene Verdacht, die herrschende pädagogische Lehre könnte in einem positiven Ideologie- und Wirkungszusammenhang mit der Gewaltherrschaft gebracht werden. Ein derartiger Zusammenhang war nur dadurch ‚ungeschehen‘ zu machen, daß ohne grundsätzlichen Vorbehalt an die vorfaschistische Pädagogiktradition angeknüpft und der Faschismus als das absolut andere perhorresziert wurde. Diesen restaurativen Prozeß hätte die Kritische Theorie nur stören können.“

Keckeisen, Wolfgang (1984]: Pädagogik zwischen Kritik und Praxis. Studien zur Entwicklung und Aufgabe kritischer Erziehungswissenschaft. Weinheim & Basel: Beltz. S. 17ff.


Fast allein auf weiter Flur, während sich die Straße erhebt…

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Die Interventionistische Linke Rhein-Neckar eröffnete mit einem Facebook-Post am 30. April 2020 eine Debatte zu Potentialen der „(Wieder-)Aneignung des ‚Tags der Arbeiter*innenbewegung'“, auf die ich am 1. Mai in einem eigenen Beitrag reagiert habe. Dieser ist hier wiedergegeben:

Liebe Freund*innen der IL Rhein-Neckar,

erfreut las ich gestern eure Initiative, dass ihr uns anlässlich der diesjährig weitestgehend ausfallenden Erste-Mai-Demonstrationen Einblick in eure interne Debatte gewährt und so zugleich eine öffentliche anregt. Da ich selbst bereits mit einigen eurer Genoss*innen in den letzten Jahren immer wieder über Sinn und Unsinn der „alljährliche[n] Inszenierung eines Aufstandes“, der „häufig ebenfalls mehr Klischee als Ausdruck realer Kämpfe“ (euer Statement) ist, diskutierte, würde ich hiermit gern ein paar Anmerkungen und Anregungen zu eben jener von euch nun initiierten Debatte beitragen wollen.

Erfreut fand ich dabei zunächst, dass einige meiner Anregungen aus diesen Gesprächen, die der Club Communism bereits 2013 formulierte und die ich vor zwei Jahren in meiner Kritik am Mannheimer Bündnisaufruf aufgriff , zumindest partiell in eure Überlegungen eingeflossen sind. Ihr rekonstruiert historiografisch den ersten Mai sehr ähnlich wie der Club Communism, nehmt allerdings die letzte Wendung, die den Blick wieder aus Deutschland herausführt (dort auf den Pariser Mai 1968), nicht mehr mit. Geschichts- bzw. erinnerungspolitisch endet ihr daher am „2. Mai 1933“, als „die Büros der Freien Gewerkschaften in ganz Deutschland gestürmt, die Vermögen beschlagnahmt und führende Gewerkschafter*innen verhaftet“ wurden. Im Gegensatz zum Club Communism, der [d]ie Geschichte des 1. Mai als Geschichte der Niederlagen“ begreift und darum das Resümee der Etablierung eines „Gedenktages“ zieht, kommt ihr zu dem Schluss, diesen Tag als „Protest- und Gedenktag“ einrichten zu wollen. Persönlich finde ich an eurer Einschätzung positiv, dass ihr damit gleichermaßen der „Fetischisierung der Arbeit und Romantisierung eines Arbeitsethos“ sowie der gewerkschaftlichen Zeichnung einer „Erfolgsgeschichte“ Einhalt gebieten wollt. Dennoch sind mit eurem Zusatz des „Protest“-Tages neuralgische Punkte angesprochen, die es zu debattieren gilt:

Erstens versucht ihr mit diesem semantischen Rekurs in der historiografischen Darstellung jenen Ursprungsmythos wiederauferleben zu lassen, zu dem der Club Communism (aufgrund ihrer Reflexionen zu den Erfahrungen des Nationalsozialismus) eben nicht ohne Weiteres zurück konnte, wenn sie am Ende schreiben, dass „der 1. Mai als ein Tag der Niederlage progressiver Politik verstanden werden“ muss. In eurem Statement kommt an einigen Stellen eine Art ‚Instrumentalisierungsthese‘ zum Tragen, die eurer Argumentation zumindest teilweise logisch widerspricht (bspw. wenn ihr schreibt, dass es euch wichtig sei, den Tag „von rechter Vereinnahmung freizuhalten“ oder ihr von einer „[Wieder-]Aneignung“ sprecht). Bei all eurer berechtigten und radikalen Kritik zu den bestehenden Protestformen („Der 1. Mai […] wurde in Deutschland nicht errungen, sondern genehmigt.“), wäre doch zunächst nach den progressiven Elementen, die es wiederzubeleben gälte, zu fragen. Dies bedürfte einer tiefgreifenden historisch-kritischen Analyse, bevor (vorschnell) zu Fragen aktueller Praxis übergegangen werden könnte.

Das bringt mich zu einem zweiten zentralen Punkt: Bekanntlich war Chicago seinerzeit nicht nur ein Hotspot des amerikanischen Industrieproletariats, sondern eben auch ein Zentrum unterschiedlichster migrantischer Biografien. In Folge der Chicagoer Niederlage am Haymarket gründeten sich solidarisch-kooperativer Hilfestrukturen (man denke hier an die sog. Settlement-Bewegung / an das Hull House, mitsamt des Working-People’s Social Science Club oder unterschiedlicher Kooperativen und Gewerkschaften). Will man also bei aller Widersprüchlichkeit progressive Politik wiederbeleben, darf man eben nicht nur im kurzen Moment des Protests ein sinnstiftendes Element suchen, sondern man muss sich vielmehr im historischen Längsschnitt auf eine entsprechende Suche begeben. Der Protest selbst ist dabei noch kein Garant für Progressivität (ähnliches ließe sich auch am Pariser Mai 1968 oder der deutschen Protestbewegung in Folge dieser Jahre belegen, was hier allerdings aus Platzgründen nicht weiter ausgeführt werden kann). Im Gedanken des „Gedenktages“ liegt daher zunächst diese Bergungs- und Bildungsaufgabe, die überhaupt erst Überlegungen zu einem sinnvollen Format des „Protests“ ermöglichen würde, welchem wiederum eine Konkretion von Klassen- und Diskriminierungslage vorauszugehen hätte.

Drittens wäre, wenn man nach alternativen Protestformen Ausschau halten möchte, weiter zu fragen, was denn jene Gruppen, die ihr in euren – an der Diskussion zur ‚Neuen Klassenpolitik‘ geschulten – erweiterten Klassenbegriff involviert, zu dieser Vereinnahmung überhaupt zu sagen hätten. Auch dies wäre Aufgabe eines gemeinsamen Bildungsprozesses. Fragt man bspw. Syrer*innen, die zumindest Erfahrung mit der dortigen kommunistischen Bewegung haben, so berichten sie (zumindest mir), dass der Tag dort zwar Feiertag, aber letztlich aufgrund der autoritären Politik Assads materiell wie symbolisch völlig entleert ist. Ihr scheibt von einem Potenzial, „den Tag gleichzeitig als Tag der Solidarität mit den Kämpfen (vorwiegend) im globalen Süden zu beschreiben und die Einhaltung der Menschenrechte von Arbeiter*innen international einzufordern.“ Hier vor Ort wären doch dann zuerst jene migrantischen Communities zu adressieren, deren Migrationsbewegungen (auch in den letzten Jahren) durch ebensolche Arbeits- und Lebensbedingungen ausgelöst wurden, und sie dabei nach ihren Assoziationen/Narrationen zum 1. Mai zu befragen. Ähnliches gilt für den feministischen Protest. Wie ihr selbst feststellt, ist auch für ihn nicht unbedingt der 1. Mai priorisierter Bezugspunkt, sondern bspw. der Frauen*kampftag. Aus dieser Problemkonstellation führt m.E. auch nicht die doch recht eklektizistisch geführte Debatte um die ‚Neue Klassenpolitik‘ heraus. Hier wäre bspw. eher in Bini Adamczaks Studien (‚Beziehungsweise Revolution‘) zu den historisch-revolutionären Sequenzen nachzulesen, was eine Vermittlung von Arbeiterbewegung und Frauen*protest verstellte. Ihr selbst formuliert hierzu eine eigene Skepsis wenn ihr schreibt: „Sollten die emanzipatorischen Bewegungen in ihrer Vielfältigkeit also den ersten Mai kapern und zum ‚Tag der Unterdrückten‘ erklären? Wir denken nicht, dass dies der Vielfältigkeit der Kämpfe gerecht würde.“ Ihr kritisiert richtigerweise die sozialdemokratisch-gewerkschaftliche sowie die orthodox-marxistische Perspektive, indem ihr die Dominanz der Repräsentation des „männlichen, weißen Alleinverdiener[s]“ in Frage stellt. Ähnlich wie die Debatte zur ‚Neuen Klassenpolitik‘ hadert ihr an dieser Stelle mit dem Problem der Vermittlung, was ihr am Ende auch nochmal in Bezug auf das ‚Antikapitalistische Bündnis Mannheims‘ aufzeigt: „Wir sind also – abstrakt formuliert – einig in dem Ziel und würden gern mehr über den Weg nachdenken.“ Ungeachtet der Tatsache, wie „progressiv“ die „Positionen“ dieses Blocks der radikalen Linken wirklich sind, wäre ihre innerhalb des bestehenden Protests symbolisch recht hohe Abgeschiedenheit zum Ausgangspunkt der Überwindung verstellter Vermittlung zu betrachten. Ihr schreibt, dass ihr mit eurem Anliegen der „(Wieder-)Aneignung des ‚Tags der Arbeiter*innenbewegung‘“ folglich „auf das Wohlwollen der etablierten Akteur*innen zu stoßen“ hofft.

Wenn ihr allerdings auf einen gemeinsamen „Bildungsprozess“, wie ich ihn oben angedeutet habe, und damit auf eine entsprechende Vermittlung hofft, die über eine Addition zum Bestehenden hinausweist, so wären hierbei im Voraus mehrere Fragen zu stellen und gemeinsame Formate zur Diskussion und Erarbeitung von Antworten zu finden: Anstatt sich nur auf die bestehenden Akteur*innen zu beschränken, wäre zu fragen, welche sonst als (von euch) progressiv eingeschätzte Akteur*innen diesem Tag fern bleiben. Was hindert die unterschiedlichen, von Sexismus, Antisemitismus, Rassismus, Antiziganismus, Sozialchauvinismus etc. betroffenen Gruppen, die ihre Kämpfe bisher isoliert voneinander an unterschiedlichen symbolischen Tagen vollziehen, daran, ihre Kräfte eben genau auf diesen Tag zu kaprizieren? Was verbinden sie überhaupt mit diesem Tag? Falls diese Frage mit einem „Nichts“ beantwortet würde, wäre der 1. Mai als gemeinsamer „Protesttag“ wahrscheinlich gänzlich ungeeignet. Um nur eine weitere Dimension in diese Diskussion einzublenden, könnte etwa gefragt werden, warum eben jüdische Akteur*innen oder Sinti und Roma mit diesem Tag i.d.R. recht wenig anfangen können. Dies hängt m.E. mit der Geschichte des Antisemitismus und des Antiziganismus und mit entsprechenden Projektionen, die aus dem auch von euch angedeuteten Arbeitsfetisch (auch der linken Theoriebildung) resultieren, zusammen. Dieses Problem ist weder neu, noch ist es über ein formales Nebeneinander der Akteur*innen oder einen vorderscheinlich gemeinsamen Kampf zur „Überwindung des Kapitalismus“, dessen Begriff schillernd und zugleich abstrakt bleibt, zu überwinden.

Vielleicht (und hoffentlich) haben euch meinen Anmerkungen ein paar neue Denkanstöße für euren Diskussionsprozess bieten können. Vielen Dank jedenfalls für euren ersten Aufschlag und dass ihr versucht, den Stein ins Rollen zu bringen.

Solidarische Grüße


Von Schustern, Haubern und Verlegern – Das grobe Handwerk verbiegt die Realität

Eine Woche ist nun vorbei, die letzten Wortgefechte scheinen geschlagen – die Zeit ist gekommen für eine Nachbetrachtung der Geschehnisse rund um den Vortrag von Rolf Verleger in Mannheim am 29.10.2019. Am letzten Dienstag veranstalteten die im Mai neugegründete Nahostgruppe Mannheim und das inzwischen Jahrzehnte alte Friedensplenum Mannheim einen Vortrag mit Rolf Verleger unter dem Titel ‚Zionismus, Antisemitismus und die Entstehung Israels‘. Der Vortrag musste sowohl terminlich als auch räumlich verschoben werden, da sich die zuvor anberaumten Lokalitäten letztlich doch gegen die Durchführung der Veranstaltung aussprachen. Auch das Hotel, welches über die Belegung des Trafohaus, wo sie letztlich stattfand, verfügt, versuchte noch den Vertrag rückgängig zu machen, wurde allerdings in Form einer einstweiligen Verfügung per Amtsgerichtsbeschluss daran gehindert.

Im Einladungstext zur Veranstaltung wurde bereits angekündigt, in welche Richtung die Reise gehen sollte. Informieren sollte der Vortrag „über das Entstehen des Zionismus (jüdischer Nationalismus) im Zarenreich des 19. Jahrhunderts, seine Einbettung in die britische Kolonialpolitik 1917 und die daraus folgende Gründung des Israelischen Staats.“ Hier wird also ein Kausalzusammenhang aufgemacht, der die Staatsgründung Israels im Jahr 1948 unisono einzig auf die mehr als 30 Jahre zurückliegende Balfour Deklaration zurückführt, während in der Zwischenzeit so ‚unbedeutende‘ weltpolitische Ereignisse wie die Oktoberrevolution (mitsamt ihrer Wendung zum Stalinismus) sowie der zweite Weltkrieg und die weitest gehende ‚Vernichtung der europäischen Juden‘ (Raul Hilberg) stattfanden, die keine Erwähnung finden sollen. In ihrer Logik wird ‚der‘ Zionismus zu einer homogenen politisch Nationalbewegung, die „durch Diskriminierung und Landraub an den Palästinensern Kriege und fortgesetzten Bruch des international gültigen Völkerrechts“ verursachte. Die Kriege auf dem vormaligen Mandatsgebiet der Briten, so lernt man, wurden einseitig von den Jüdinnen und Juden angezettelt. Während die palästinensische Bevölkerung hier nur als Opfer auftaucht, wird in diesem Manichäismus ein kategorialer Dualismus aufgemacht. „Gegenspielerin des Zionismus zur Emanzipation der diskriminierten jüdischen Minderheit war die sozialistische Bewegung.“ Dem per se reaktionären Zionismus wird also das Heilsversprechen des Sozialismus gegenübergestellt, progressiv konnten und können Jüdinnen und Juden also nur sein, wenn sie sich letzterem unterordnen. Wer nach diesen drei Sätzen der Vortragsankündigung noch nicht wusste, auf welcher Seite sie*er sich eindeutig zu verorten hatte, konnte nur ein*e Reaktionäre*r sein.

Johannes Hauber, der sich bereits in der Diskussion rund um den BDS-Beschluss im Mannheimer Gemeinderat im Januar diesen Jahres als erster im Kommunalinfo Mannheim (KIM) zu Wort meldete (siehe mein voriger Artikel) und damals am Beschluss der LINKEN kritisierte, sie betreibe eine „Diffamierung der Unterstützer*innen der BDS- Kampagne“ und ihr sei „das Wohlwollen der bürgerlichen Parteien wichtiger ist als die Solidarität mit den Palästinensern“, trat auch dieses Mal wieder als Wortführer der Nahostgruppe auf. Er übernahm die Einführung in das Thema und stellte den Referenten vor (ein Mitschnitt, der ungefähr die Hälfte seiner gesamten Ausführungen umfasst, kann hier nachgehört werden). Gleich zu Beginn dieser Einführung, die noch nicht mitgeschnitten wurde, klärte er das Publikum über die einstweilige Verfügung des Amtsgerichts auf und äußerte in diesem Zusammenhang: „Wir wissen alle, wer dahintersteht.“ Dabei verwies Hauber auf jene Institutionen, die im Vorfeld der Veranstaltung eine gemeinsame Stellungnahme verteilten: Arbeitskreis gegen Antisemitismus und Antizionismus Mannheim e.V., Jüdische Gemeinde Mannheim, Deutsch-Israelische Gesellschaft Rhein-Neckar und Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit. Hauber brilliert ganz eindeutig mit Antisemitismus im antizionistischem Gewand: „Die Israelische Regierung hat hier starke Lobbyvertreter und wir sind der Auffassung, dass wir hier auch was dagegensetzen müssen.“ Fernab davon, dass diese hier im antisemitisch-weltverschwörungsideologischen Jargon bereits als „Israellobby“ bezeichnet wurden, was ihnen eine eigene politische Entscheidungsfähigkeit aberkennt, wurde mit Falschbehauptungen nicht gespart. In seiner Lesart wurden die Veranstaltungsorte unter Druck gesetzt, den Vortrag abzusagen. Von der Stärke dieses Drucks, kann sich jede*r selbst überzeugen, denn die Informationen, die den Veranstaltungsorten seitens der o.g. Institutionen zugänglich gemacht wurden, waren inhaltlich identisch mit der vor Ort verteilten Stellungnahme. Hauber bezichtigte die „Lobbyvertreter“ des Betrugs, indem sie sich nicht an das Mannheimer Leitbild, welches sich der Demokratie und Menschenrechte verpflichtet, halten oder „damit lügen, wenn sie es unterschreiben“. Die Stadt müsste ihnen also, wenn es nach Hauber ginge, den Zugang zu öffentlichen Einrichtungen verwehren. Das projektive Moment ist in dieser Wendung ebenso evident wie die Opferinszenierung. Er bekräftigt sie an anderer Stelle nochmals, wenn er vom „Versuch, uns zum Schweigen bringen zu wollen“ spricht. Nachdem er einen schrägen Vergleich aufmachte, indem er das geringe Interesse des Staates nach strafrechtlicher Verfolgung von „Faschisten“ dem Versuch gegenüberstellt, seine Nahostgruppe „mundtot zu machen“, findet die Opferinszenierung ihren vorläufigen Höhepunkt: „Wir lassen uns aber nicht zum Schweigen bringen.“ Hauber, der sonst so gern von Widersprüchen schwadroniert, fällt sein eigener nicht auf. Wenn sogar der sonst als Instrument der bürgerlichen Klasse verhasste Mannheimer Morgen die Veranstaltung – mit einem Freudschen Verschreiber („das Entstehen des Zionismus [jüdischer Nationalsozialismus] im Zarenreich“) – sehr wohlwollend ankündigte, wofür sich Hauber in seiner Ansprache herzlich bedankte, kann der Maulkorb noch nicht allzu fest sitzen.

Roland Schuster von den LINKEN Mannheims und Redakteur des KIM, der sich bei der Veranstaltung um die technische Infrastruktur kümmerte, schrieb am Folgetag von „einer offensichtlichen Kampagne“ sowie von „massiven Protesten und regelrechten Shitstorms von Mitgliedern der Deutsch-israelischen Gesellschaft, des Arbeitskreises gegen Antisemitismus und Antizionismus und der jüdischen Gemeinde Mannheim.“ Und auch er behauptet: „Die Absage reiht sich ein in die Absagen vom Forum Jugendkulturzentrum als auch SanctClara [sic! eigentlich: Santa Clara, ein Ökumenisches Bildungszentrum in Mannheim; Anm. A.R.], wo ebenfalls diese Veranstaltung im Vorfeld verhindert worden ist.“ Dieser Jargon schien sich durchgesetzt zu haben. Auch Karlheinz Paskuda, ebenfalls Mitglied der Nahostgruppe, lässt am Tag nach der Veranstaltung seinem überhöhten Mitteilungsbedürfnis bei Facebook freien Lauf: „Mit extremen Druck, Shistorm wurde Einfluss genommen. Nachdem diese demokratiefeindliche Politik beim Forum und bei Santa Clara erfolgreich war, konnte nur ein Gerichtsverfahren diesen Angriff auf die Diskussionsfreiheit am dritten Veranstaltungsort abwehren.“ Das Forum der Jugend hatte sich ohne jegliche externe Informationen bereits von selbst gegen Rolf Verleger ausgesprochen. Eine Absage nach erfolgter Zusage war daher gar nicht notwendig, da letztere nie erfolgt war. Das Forum selbst ist entsetzt. Hieran zeigt sich erneut, wie die Verschwörungsideologie einer im Hintergrund waltenden Macht wirkt. Als könnten die Betreiber*innen der Orte – gleich den ‚ferngesteuerten‘ Institutionen – nicht selbst entscheiden, ob sie einen bundesweit für seinen plumpen Antizionismus bekannten Referenten in ihrem Hause haben wollen oder nicht.

Aber zurück zum Vortrag selbst: Rolf Verleger tat dann von Beginn an, was zu erwarten und wofür er angekündigt war. Er inszenierte sich zunächst in theatralischer Weise als jüdischer Kronzeuge, indem er Bilder von sich als kleines Kind auf jüdisch-rituellen Familienfesten lang und breit darbot. Dieser Taschenspielertrick, das Publikum rhetorisch an die eigene jüdische Herkunft zu fesseln, diente letztlich der prophylaktischen Abwehr, um nicht als Antisemit bezeichnet werden zu können. Nachdem nämlich auch Hauber bereits im Januar ‚israelkritische‘ jüdische Stimmen zu genau diesem Zweck in seinem Leserbrief zitierte, setzte er mit der Einladung Verlegers nun noch einmal nach, um mit ihm einen krönenden Abschlusspunkt zu setzen. Das imponiert freilich nur jene, die mit lebendigem Judentum sonst nicht viel zu tun haben. Hätten sie es, so wäre ihnen die Anfangsszene sofort dubios und schleierhaft vorgekommen, denn eine derartige öffentliche Selbstdarstellung, wie sie Verleger vornahm, ist den meisten Juden und Jüdinnen aus Gründen historischer wie biografischer Erfahrung kaum möglich. Für Verleger, der seine narzisstische Kränkung im Zuge seines Rausschmisses aus den jüdischen Institutionen nun mit einer umso stärkeren Osession gegen diese und den jüdischen Staat wendet, ist dieses biorafische Narrative hingegen eine Notwendigkeit, ohne das seine gesamte Argumentation nicht funktionierte. Denn nur dadurch fragte (fast) niemand im Publikum mehr genauer nach, warum ausgerechnet er als promovierter Psychologe berufen sei, über das historische Thema der Staatsgründung Israels „als Experte“ eingeladen zu werden und nicht etwa eine Person vom Fach, wie etwa ein*e Historiker*in. Und auch deshalb konnte er, nachdem er, ohne damit einen Bezug zum Thema herzustellen, eine knappe halbe Stunde seine Familiengeschichte – gespickt mit etwas Mannheimer Lokalpatriotismus – darlegte, bevor er zu seinem Hauptteil kam: Einem Referat über den dritten Teil seines Buches ‚Hundert Jahre Heimatland?‘ über „das Judentum aus dem Osten und das Empire aus dem Westen“. Obwohl man darin zwar einiges Wahres über die erste und zweite Welle der Alija nach Palästina und die frühen zionistischen Führer hörte, war es dennoch letztlich nur ein Lehrstück über antiquierte Formate historischer Forschung. Die sonst so auf historisch-materialistische Analyse pochenden Veranstalter*innen und Zuhörer*innen ließen sich von der rein ideen- und personengeschichtlichen Erzählung Verlegers kritiklos leiten. Als er am Ende nochmals bekräftigte, dass er in seinem Buch gut 80 Prozent der Darlegungen von Alexander Issajewitsch Solschenizyn entnommen hat, der von Rudi Dutschke et al. in ‚Die Sowjetunion, Solschenizyn und die westliche Linke‘ als „ehrlich moralisierender Literat“ und „religiös-moralisierender Kritiker“ bezeichnet wurde, zeigte das nur die historische Amnesie der Verleger-Apologet*innen auf. Aber wahrscheinlich waren sie schon 1975, als das besagte Debattenbuch erschien, längst der Dogmatik der DKP und anderer sowjettreuer Splitterparteien verfallen, in denen sie sich gemeinsam mit Verleger damals tummelten. Die Kritik der Neuen Linken scheint retrospektiv gar nicht mehr wahrgenommen worden zu sein. Was Schuster in seinem Interview mit Verleger als „einen sehr grundsätzlichen und historischen Ansatz“ bezeichnet, erweist sich bei genauer Betrachtung als Farce. Verleger geht nämlich weit über das hinaus, was er wissenschaftlich betrachtet zu leisten im Stande ist. Er blendete die Shoah aus seinen historischen Analysen und theoretischen Reflexionen zur Entstehung Israels ganz einfach aus und setzte die Politik des Zarenreiches in Polen sowie die Balfour Deklaration von 1917 (und damit als rein britisches Kolonialprodukt) als zentralen Referenzpunkt. In der anschließenden Diskussion darauf angesprochen, reagierte er mit reflexhaftem Entsetzen, wie man ihn als Juden mit dieser Familiengeschichte nur vorwerfen könne, die Shoah nicht immer mitzudenken. Sie sei Grundimpuls allen Handelns – auch diese Position wiederolt er im Interview mit Schuster. Das mag auch sein, nur leider nicht seines Denkens. Einer reflexiven Antwort auf die eigentliche Frage wich er damit erwartungsgemäß aus. Eine solche Antwort gibt es ohne grobe Realitätsverzerrung nämlich nicht. Wie ‚grundsätzlich‘ und ‚historisch‘ argumentiert wurde, zeigte sich aus den Ableitungen, die auf dem Hintergrund dieser eklektizistischen und fragmentierten Erzählung entfaltet wurden: Die Juden sollten laut Verleger anstelle des Zionismus lieber an den Traditionen des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbunds (Bund) Polens anknüpfen. Dass diese linksassimilatorische Bewegung Osteuropas spätestens seit 1935 seine Anziehungskraft verloren hatte und nach 1945 dort gänzlich verschwand, also auch hier die Erfahrung der Shoah bezeichnend war sowie die dortigen Pogrome im unmittelbaren Post-NS (man müsste hierfür nur den Historiker Jan Tomasz Gross lesen). Sie führte unter den Bundisten zu einen linkszionistischen turn, was Verleger beflissentlich verschweigt. Die Palästinenser kommen bei ihm also nur als Opfer vor, ihr Terrorismus wird bagatellisiert und BDS von ihm als kleineres Übel gegenüber diesem gerechtfertigt: „Welche Form des Widerstands der Palästinenser gegen die Besatzung soll denn erlaubt sein? Wollen die Kritiker von BDS wieder Flugzeugentführungen haben wie in den 70ern, oder Selbstmordattentate wie um 2000 oder Messerattacken verzweifelter fanatisierter Einzelner?“ (Interview; ähnlich auch in der Diskussion im Anschluss des Vortrags) Verzweiflung, Ausweglosigkeit, Widerstand – der Moralapostel Vereger im Stil Solschenizyns hantiert mit rein reaktiven Formulierungen und verweigert, den Palästinensern die Eigenverantwortung für ihre Taten (was wiederum rassistisch ist). Und auch erst wenn die israelische Regierung „die Palästinenser um Verzeihung für vergangenes und gegenwärtiges Unrecht bittet“ sei die Zukunft und damit die Existenz des jüdischen Staates legitimiert. Bei alledem wunderte es nicht, dass frenetischer Applaus im Trafohaus ausbrach, als Verleger, der selbst vermeintlich gar nicht über BDS reden wollte, der Bewegung vom Standpunkt eines waschechten Juden aus attestierte, sie sei nicht antisemitisch.

Bezeichnend an der gegenwärtigen Debatte ist, dass DIE LINKE eindeutig versucht, ihre Januar-Position zu BDS zu revidieren und dahingehend eine Diskursverschiebung herbeizuführen. Die Hälfte des Artikels von Schuster hat dies zum Ziel. Wie schon im Januar spricht sie von Diskussionsangeboten: „Die notwendige Diskussion um dieses Thema wird auch in Mannheim geführt werden müssen. Es wäre fatal, diese Diskussion mit Verboten zu torpedieren.“ (Schuster) Er war froh, „dass die Kampagnenführer am 29. Oktober ihre Grenzen erlebt haben.“ Warum der Satz „Wir protestieren [mit Nachdruck] gegen diese Veranstaltung!“, der die Stellungnahme der o.g. Institutionen abschloss, per se „eine notwendig Debatte […] versucht zu vehindern [sic!]“, nur weil die Positionen bestimmter Personen als nicht akzeptabel für eine solche Debatte betrachtet werden, muss wohl weiterhin ein Rätsel bleiben. Aber vielleicht sollte die Frage genau andersherum gestellt werden: Warum wurde, um eine solche Debatte anzuregen, nicht zunächst auf die hiesige jüdische Gemeinde und die anderen Institutionen zugegangen? Sie sind die lokalen Vertreter*innen für Mannheim in dieser Thematik. Wahrscheinlich wissen Hauber, Schuster, Paskuda und Co, dass es zahlreiche jüdische Gemeindemitglieder satt haben, sich seit nunmehr fünfzig Jahren ihre dumpfe antizionistische Propaganda anhören zu müssen: Der Weg, den DIE LINKE nun erneut einschlägt, eröffnet gewiss nicht unbedingt diesen anvisierten Dialog – es sei denn, er soll ohne die Mannheimer Jüdinnen und Juden sowie ihre Verbündeten geführt werden. Nach Hauber et al. wäre ein Stadtgespräch in dieser Kombination gewiss ebenfalls „nicht antisemitisch“, solange man sich einen jüdischen Kronzeugen aus Südamerika, China oder Alaska einfliegen lässt. Der einzige Hoffnungsschimmer dieses Abends war, dass fast ausschließlich Personen im Alter von 60+ im Trafohaus anwesend waren. Während die jüngeren Generationen der außerparlamentarischen Linken in den letzten 20 Jahren einige wichtige Diskussionen in der Israel-Palästina-Frage durchlaufen haben, scheint ein Großteil der hiesigen Altlinken weiterhin Brummkreisel zu spielen.

Apropos Spiel, noch etwas wurde an der Debatte deutlich: Mal wieder zeigte das Kommunalinfo Mannheim, welches zusehend zum Käseblatt verkommt,  dass es nicht einmal seinem – an sich nicht allzu vielversprechenden – Namen gerecht wird, der die Verbindung kommunaler Themen mit wohl recherchierten, an journalistischen Mindeststandards orientierten Informationen suggeriert. Stattdessen wird versucht, weltpolitische Themen in das Format eines Kasperl-Theaters zu pressen und dabei die Wahrheit ähnlich weit verzerrt, wie man die Balken einer solchen Bühne nur biegen kann. „Schuster, bleib‘ bei deinen Leisten“, mag man da am liebsten sagen. Und: „Hauber, setz die Alu-Haube ab!“ Der letzte Satz meines damaligen Leserbriefs ist längst nicht obsolet. Das Falsche wird nicht richtig, nur weil die Karten des Gemeinderats jetzt neu gemischt sind und Hehl wie Ferrat durch Angst vor Kontaktschuld DIE LINKE vor Schlimmerem bewahren. Auch Verleger hat bei dem Neurechten Ken Jebsen ein ausführliches Interview gegeben…


Eine unangefragte Antwort auf den Leserbrief von Johannes Hauber im KIM vom 16. Januar 2019

Antisemiten_gibts_überall

Antisemit*innen gibt’s überall

Reichlich spät habe ich mich nun aus Dokumentationszwecken und, da der Spuk kein Ende nimmt, dazu entschieden doch noch meinen Leserbrief (veröffentlich am 21. Januar 2019 im Kommunalinfo Mannheim – KIM) auch hier nochmal bereitzustellen. Auslöser war die Debatte um den Gemeinderatsbeschuss ‚Kein Platz für die antisemitische Boycott, Divestment and Sanctions (BDS)-Bewegung in Mannheim‚, welche sogar DIE LINKE (zur Verwunderung einiger kritischer Stimmen) mitgetragen hatte. LINKEN-Stadtrat Thomas Trüper gab damals anschließend folgende Erklärung zu Protokoll:

DIE LINKE bringt diese Erklärung gegen die antisemitische BDS-Bewegung wie ersichtlich mit ein. Den außerordentlich schwierigen Friedensprozess mit einer rassistischen Boykottkampagne zu unterminieren, ist zu absolut verwerflich.

Der Friedensprozess hat jedoch viele politische Gegner, auch bei Politiker*innen im Staate Israel selbst. In Verantwortung für den Frieden und für ein sicheres Leben aller Menschen in Israel und in der Region kritisieren wir alle Maßnahmen, die geeignet sind, den Friedensprozess zu stören – von welcher Seite auch immer.

Außerdem verwahren wir uns gegen Versuche, jegliche Kritik an der aktuellen Politik der israelischen Regierung als “antisemitisch” zu diskreditieren. Wir wissen uns hierbei einig mit über 30 israelischen Wissenschaftler*innen, die am 20. November in einer gemeinsamen Erklärung der EU-Ratspräsidentschaft volle Unterstützung im Kampf gegen Antisemitismus zusicherten, aber warnten: Europa sagen wir: Vermischt Kritik an Israel nicht mit Antisemitismus.

Wohl wissend, dass Trüper einige seiner Genoss*innen verprellen würde, wenn er den Beschluss unkommentiert stehen ließe, und mit offensichtlich innerer Zerrissenheit musste er im Kontext von BDS zugleich auf (‚wissenschaftlich‘ gesicherte) ‚legitime Israelkritik‘ verweisen. Dies reichte seinen Genoss*innen und politisch Gleichgesinnten jedoch nicht aus. Johannes Hauber verfasste im gleichen Blatt einen Leserbrief, der die Entscheidung der Mannheimer LINKEN und ihre neue Positionierung zu BDS kritisierte. Haubers Leserbrief folgten wiederum weitere in selber Ausrichtung. Meiner war damals als Reaktion auf Hauber verfasst. Im Kommunalinfo Mannheim wurde nach mir die Debatte, welche hier in Gänze nachgelesen werden kann, geschlossen – leider nur vorübergehend… hier also mein damaliger Leserbrief:

Hier ist nicht der Platz, en detail den antisemitischen Charakter der BDS-Kampagne aufzuzeigen und eine entsprechende Kritik zu formulieren, die deutlich über die vom Gemeinderat verabschiedete Erklärung hinaus zu gehen hätte. Eine solche Kritik wurde an einigen Stellen teils bereits geleistet, so dass sich bei Interesse beim International Institute for Education on Research on Antisemitism (Link: https://iibsa.org/wp-content/uploads/2018/11/Die-antisemitische-Boykottkampagne-BDS-Eine-Handreichung_IIBSA.pdf.pdf), bei der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (Link: https://www.deutsch-israelische-gesellschaft.de/mediafile/DIG_Boykott_gegen_Israel.pdf ) oder der Amadeu Antonio Stiftung (Link: https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/w/files/pdfs/aktionswochen/paedagogischer-umgang-mit-israelbezogenem-antisemitismus.pdf , S. 22ff.) eingehender mit ihr beschäftigt werden kann. Wer sich wiederum lieber in Form eines Vortrags und anschließender Diskussion zur BDS-Kampagne informieren möchte, kann dies am 7. Februar um 19 Uhr im Jugendkulturzentrum FORUM tun: Der Arbeitskreis gegen Antisemitismus und Antizionismus Mannheim lädt den Politikwissenschaftlicher Sebastian Mohr zum Thema ‚Boykott des Friedens – Zur Aktualität der Israel-Boykott-Kampagne‘ ein.

Stattdessen soll sich hier daher auf die ‚Argumente‘ Haubers (Mannheimer IGM-Aktivist und Vorsitzender des Europäischen Betriebsrats von Bombardier) beschränkt werden. In seinem Leserbrief gewährt er uns einen Einblick in seinen Bücherschrank, aus dem er reichlich zitiert. Sigmar Gabriels einstiger Vorwurf gegenüber Israel („Apartheitsstaat“) und das BDS-Bild Norman Paechs – ‚Friedensaktivist‘ der Linkspartei, nach dessen Einschätzung Israel im Libanon einen „unzulässigen Vernichtungskrieg“ führte, der an die „unseligen Vergeltungsbefehle der deutschen Wehrmacht erinnert“ – werden folgerichtig in eine Reihe gestellt mit den immer gleichen jüdischen Kronzeugen des Antizionismus. Mit dem Verweis auf ihren jüdischen Hintergrund und ihre Wissenschaftlichkeit – sie sind Historiker und Soziologen – holt er nicht nur einen alten Taschenspielertrick aus der Mottenkiste, sie dienen ihm sogleich als Autoritätsargument (was sonst unter ‚Neuen Linken‘ übrigens eher misstrauisch beäugt wird). Seit Jahren hetzen Haubers Autoritäten gegen Juden, jüdische Organisationen und pauschal gegen Israel – ganz so, wie es auch die von ihm verteidigte BDS-Kampagne tut. So bezeichnete Abraham Melzer beispielsweise Charlotte Knobloch, die Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde Münchens, als „jüdischen Clown“, die ihre „Befehle womöglich direkt vom Chef“ empfange, womit hier recht offensichtlich im Sinne der jüdischen Weltverschwörung Israel und die USA gemeint sein dürften. Der Verschwörungsideologie verlieh Melzer mit dem Ausdruck der „zionistischen Mafia“ Nachdruck. Moishe Zuckermann, der wiederum auch schon dem Verschwörungsideologen Ken Jebsen ein Interview gab, ist dafür bekannt, die gegenwärtige Lage der Palästinenser_innen mit jener der Juden in den Ghettos und Lagern gleichzusetzen und dabei ihren märtyrerhaften Terrorismus als Widerstand umzudeuten. Ilan Pappe steht wiederum Zuckermann in Sachen Holocaustrelativierung in nichts nach, wenn er im Zuge des Israelischen Unabhängigkeitskriegs von einer „ethnischen Säuberung Palästinas“ spricht – ein Jargon, der im deutschen, eher akademischen Kontext als Beschreibung für das von Juden gereinigte Dritte Reich stand. Wohl wissend, dass der sonst von wahnhaften Antisemit_innen so gern gebrauchte Ausdruck des ‚Freiluft-KZs Gaza‘ in der außerparlamentarischen Linken inzwischen nicht mehr ganz so gut ankommt, zitiert Hauber stattdessen lieber Pappe’s Formulierung vom „Mega-Gefängnis“. Dieser zwar verschobene Signifikant kodiert dennoch das gleiche Signifikat, nämlich die ghettoisierten bzw. konzentrierten Palästinenser_innen.

Wie wenig Ahnung Hauber dabei von innerisraelischen Debatten hat, stellt er allein dadurch unter Beweis, dass er die Auswürfe Pappes und Zuckermanns generalisierend als die scheinbar zentrale „Kritik israelischer Linker an der israelischen Regierung“ bezeichnet. Dadurch blendet Hauber die prozionistischen und gewerkschaftsnahen Linken innerhalb Israels aus seinem Verständnis von ‚links‘ aus. Hier scheint sich bei Hauber ein eigenes identitäres Bedürfnis nach Homogenisierung der Linken und ein autoritäres Verlangen bahn zu brechen, nicht nur die israelische Bevölkerung maßregeln zu wollen, sondern eben auch Linke, die das Existenzrecht und die Autonomie Israels anerkennen. Solche Muster sind spätestens seit den 1980er Jahren unter Linken bekannt. Dan Diner spricht beispielsweise in Anlehnung an psychoanalytisches Vokabular von der Verdrängung der Schuldlast bei den Nachfahren der Täter_innengeneration. Er verwendet das Motiv des Wiederholungszwangs und der intergenerationalen Weitergabe von Angstgefühl und Bestrafungserwartung, die mit zunehmender Distanz zum Holocaust eben nicht abflaut, sondern die „negative Symbiose“ von Deutschen und Juden sogar noch „konfliktträchtiger“ macht. Haubers Auslassungen scheinen Diner noch heute Recht zu geben.

Haubers ideologische Verblendung in Bezug auf die BDS-Kampagne wird nur allzu deutlich, wenn man ins Detail geht. Als Gewerkschaftsvertreter und Betriebsratsvorsitzender müsste er eigentlich an den ureigenen Interessen der Arbeitnehmer_innen – ihren Abhängigkeitsverhältnissen und Arbeitsbedingungen – ansetzen und von hier aus seine Kritik entfalten. Dass dem nicht so ist, lässt sich am Beispiel des israelischen Unternehmens ‚SodaStream‘ erkennen, das aufgrund einer aggressiven BDS-Kampagne sein Hauptwerk in der Israelischen Siedlung Mishur Adumim im Westjordanland schloss, wodurch dort rund 500 palästinensische Angestellte gegen ihren ausdrücklichen Willen ihre Arbeitsplätze verloren. Die SodaStream-Geschäftsführung, die auch unter den Palästinenser_innen für ihre guten Arbeitsbedingungen bekannt ist, eröffnete im Negev ihr neues Werk und übte scharfe Kritik an der Israelischen Regierung, da diese mit den rechtlichen Bestimmungen für Arbeitsgenehmigungen von Palästinenser_innen ihre Weiterbeschäftigung erschwerte. Nach von SodaStream gewonnenem Rechtsstreit konnten zumindest 74 ehemalige palästinensische Angestellte trotz ihres nun immensen Anfahrtswegs wieder eingestellt werden. Dies ist nur eines von vielen Beispielen, wo es palästinensischen Arbeitnehmer_innen besser unter den rechtsstaatlich gesicherten Arbeitsverhältnissen in Israel geht als unter den deutlich korrupteren Bedingungen in den palästinensischen Gebieten. Am SodaStream-Beispiel wird ersichtlich, wie viel Substanz im Gerede vom „gewaltlosen Kampf gegen Israelapartheit“ und der darin enthaltenen Herrschaftskritik steckt – sie ist kaum mehr als ideologische Mythenbildung. Die BDS-Kampagne gibt nur vor, die humanitäre Lage in den palästinensischen Gebieten verbessern zu wollen, in Wahrheit ist sie, mit Jutta Ditfurth gesprochen, „der diplomatische Arm der Hamas“, der jede Hoffnung auf einen israelisch-palästinensischen Dialog verunmöglicht. Außerdem zeigt sich, dass die konkrete Kritik an einzelnen Verfügungen der israelischen Regierung noch längst kein Antisemitismus sein muss, sie gehört in einer Demokratie (wie etwa in Israel) zum Alltagsgeschäft. Der präventive Abwehrreflex, wie er sich auch an Trüpers Erklärung zur BDS-Gemeinderatsresolution andeutet, und die Vehemenz, mit der häufig behauptet wird, man dürfe Israel nicht kritisieren, verrät allerdings mehr über die ‚Kritiker_innen‘ als über die Sache selbst: Israel erlebt im globalen Maßstab als ‚Jude unter den Staaten‘ mit Abstand die meisten Anfeindungen: Über ¾ aller UN-Resolutionen der letzten Jahre richteten sich gegen Israel und auch sogar Israels Arbeitspartei verließ die Sozialistische Internationale (SI) als diese sich der BDS-Kampagne anschloss. All dies kann man (wie etwa Hauber) aktiv ausblenden, wenn man das schon vor Einseitigkeit knarzende Bücherregal zum sakralen Schrein erhebt. Dass es Hauber jedoch nicht einmal stutzig macht, wenn die einzige Gegenstimme im Mannheimer Gemeinderat von Hehl (NPD) und die einzige Enthaltung von Ferrat (Mannheimer Volkspartei) aufkommen, trägt schon recht deutliche Züge einer verschwörungsideologischen Verblendung.


Glänzend deutsches Silbertablett der Solidarität

Gruppe_gegen_imperialistische_Aggressionen_MA_2

Als Person, die selbst auf dem ersten ‚Fest der Solidarität‘ in der Neckarstadt-West in Mannheim zugegen war und dort vom zentralen Protagonisten der ‚Gruppe gegen imperialistische Aggressionen Mannheim‘ (GGIA) und seinen mitgebrachten Hamburger Jugendwiderstands-Kampfhünd*innen verbal attackiert und mit Gewaltandrohungen konfrontiert wurde, bin ich sehr froh über das hier gezeigte politische Engagement der IL Rhein-Neckar.

Zwar konnte beim Fest unter Bezug auf die formalen Anmeldungsmodalitäten der Info-Stände (es wurde in den besagten „heftigen Diskussionen“ zentral mit der Nichtanmeldung der GGIA argumentiert) die GGIA letztlich zum Abbau bewegt werden. Leider ließen jedoch einige der beteiligten Gruppen und Organisationen die in dieser Situation notwendige Nachdrücklichkeit und auch im Nachgang ein adäquates Problembewusstsein vermissen. Ich kann daher die Einschätzung der IL, dass „[v]iele der Anwesenden […] trotz oder gerade wegen des Titels des Festes mit dieser Gruppierung keine gemeinsame Sache machen“ wollten und dass auf dem Fest eine entsprechende Klarstellung erfolgte, kaum teilen. Außerdem wende ich mich nicht nur ‚formal‘ gegen die Umtriebe der GGIA, die sich in dieser Logik auf dem nächsten ‚Fest der Solidarität‘ problemlos in ‚solidarischer Gesellschaft‘ wähnen könnte, würde sie sich schlicht ordnungsgemäß anmelden, sondern zugleich dezidiert inhaltlich gegen den von der GGIA im Deckmantel sog. Islamophobie- und Zionismuskritik vielseitig gezeigten Antisemitismus. Dieser äußerte sich bisher in zahlreichen Facebook-Postings: So stellte ihr zentraler Protagonist auf seinem eigenen Facebook-Account am 11.05.2018 ein Bild, in dem die bekannte Szene aus dem Film Schindlers Liste, die den Kommandanten des Konzentrationslagers Płaszów, Amon Göth, dabei zeigt, wie dieser von seinem Balkon der am Lager angrenzenden Villa aus willkürlich auf KZ-Häftlinge zielt und schießt, Israelischen Soldaten gegenüber – kommentiert mit der Frage: „What ist the difference between the Nazis shooting unarmed Jews, and the Israelis shooting unarmed Palestinians?“ In einem anderen Posting vom Facebook-Gruppenaccount der GGIA wurde am 28.06.2018 wurde ein Beitrag geteilt, in welchem die Israelische Politik als „Faschistische Barbarei“ bezeichnet wird. Die Liste allein der antisemitischen Hasstiraden ließe sich noch deutlich verlängern (mal ganz zu schweigen vom maoistischen und stalinistischen Identitätskult). Wer womöglich in diesen direkten geschichtsrevisionistischen und holocaustrelativierenden Bildern (à la ‚Israelis/Juden sind die neuen Nazis‘ bzw. ‚Gaza als Freiluft-KZ‘) noch keinen Antisemitismus zu erkennen vermag, der*dem sollte spätestens das von der IL schon dargelegte Posting zur Gewalt- bzw. Morddrohung gegen den Arbeitskreis gegen Antisemitismus und Antizionismus Mannheim aufhorchen lassen.

Allerdings sollte die Kritik nicht erst dort beginnen, wo uns nahestehende Personen oder Gruppen mundtot gemacht oder gewaltsam angegriffen werden, sondern bereits, wenn die Vorstellung einer solidarischen und emanzipatorischen Gesellschaft bedroht wird. Jene kurzsichtigen Menschen, die Antisemitismus nicht zu erkennen vermögen, selbst wenn er, wie im Falle der GGIA, auf einem deutsch-glänzenden Silbertablett serviert wird, sei dringend empfohlen, das nächste Mal Veranstaltungen, wie jene im IL-Artikel angesprochene gemeinsame Veranstaltungen vom Arbeitskreis gegen Antisemitismus und Antizionismus Mannheim und von INPUT MA/HD im Rahmen des JUZ-Jubiläums, zu besuchen. Dort wurden nämlich einerseits am Beispiel des Workshops zum NSU-Komplex mögliche Allianzbildungen unter von rassistischer und von antisemitischer Gewalt bedrohten Menschen, also solidarische Praktiken innerhalb der falschen Gesellschaft thematisiert. Andererseits wurde mit der Podiumsdiskussion ‚Zwei jüdische Perspektiven auf die Protestbewegungen rund um 1968‘ der Versuch unternommen, in der Geschichtsschreibung der deutschen Linken eher marginalisierte Positionen von linken Jüd*innen und historische Entsolidarisierungen auf eben jenes vermeintlich linke, aber zutiefst deutsche Tableau zu bringen. All das sollte zeigen, dass Solidarität eben nicht nur „keine Einbahnstraße“ ist, sondern obendrauf auch einiger Aufklärung und entsprechend nachdrücklicher Haltung bedarf.

Dennoch zeigt die IL mit diesem Artikel und ihrem Engagement zum Fest selbst wesentlich mehr Rückgrat als nicht unbeachtliche Teile der Mannheimer Linken. Vielen Dank dafür.


Erster Mai, arbeitsfrei!

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Ein Kommentar zum Mobi-Flyer ‚Organisieren. Streiken. Kämpfen. Kapitalismus Überwinden!‘ des Antikapitalistischen Blocks auf der DGB-Demo zum 1. Mai in Mannheim.
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Mal ganz davon abgesehen, dass der 1. Mail erst unter den Nationalsozialist*innen staatlich institutionalisiert wurde, wäre er, wie der ClubCommunism bereits vor Jahren aufzeigte, auch mit Blick auf andere historische Ereignisse weniger als ‚Kampf-‚ und ‚Feiertag‘ und viel eher im Sinne einer „Geschichte der Niederlagen“ als Gedenktag zu begreifen. Dies zöge die logische Konsequenz mit sich, dass man eben nicht ein pseudorevolutionäres und zugleich typisch deutsches Spektakel mit anschließendem Bierbesäufnis bei Bratwurstgeruch zu veranstalten hätte, sondern einen Tag, an dem man, vom alltäglichen kapitalistischen Normalvollzug vorübergehend befreit, der Aufklärung wegen diese Geschichte einmal in Ruhe aufarbeiten oder sich einfach ein Glas Wein gönnen könnte.
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Aber nicht nur aus diesem Grund stecken in der im Aufruf verbreiteten Vorstellung vom „kapitalistische[n] System“ mehrere problematische Implikationen: Allein die Rede vom „System“ ist derart verkürzt, da sie einerseits das fetischisierte Bewusstsein lediglich als indoktriniertes, also von einer herrschenden Macht dem freien Bewusstsein aufgezwungenes versteht. Schon Marx spricht daher nicht ohne Grund von „notwendig [!] falschem Bewusstsein“ und vom Fetisch – Begriffe, die eben gewissermaßen auch den Selbsterhalt und das Begehrliche am Falschen transportieren. Wert- und ideologiekritische Theoretiker sprechen daher nicht von „System“, sondern von „kapitalistischer Vergesellschaftung“. Andererseits verkennt der Systembegriff die hegemonialen Kämpfe innerhalb des kapitalistischen Staates, der eben nicht als duale Blockkonfrontation von oben/unten, Kapital/Arbeit, Kapitalist/Prolet etc. verstanden werden kann, sondern immer in der Vielfalt der bestehenden Kampffelder und Fraktionierungen zu analysieren wäre. Hierbei würden weder Rassismus, Antisemitismus oder auch Sexismus/Antifeminismus, wie im Aufruf angedeutet, lediglich als ‚Nebenwiderspruch‘ erscheinen.
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Dem Aufruf zufolge geht „[d]er Kampf der Krankenpfleger_innen […] uns alle“ nur etwas an, weil sie „gegen die Interessen privater Unternehmen und für ein menschliches Gesundheitssystem“ kämpfen. „Deshalb ist es wichtig diesen fortschrittlichen Kampf antikapitalistisch zu begleiten [!]“. Der Aufruf fällt mit solchen Formulierungen teils in den Gleichheitsfeminismus der ersten Frauenbewegung zurück, bei dem (auf der politischen Ebene) einerseits versucht wurde, als eigenständige Rechtssubjekte (Wahlrecht etc.) anerkannt zu werden, wie andererseits ein eigenes Einkommen und damit relative ökonomische Unabhängigkeit zu erkämpfen. Entscheidend, wie Adamczak anhand der Russichen Revolution aufzeigt, ist hierbei, dass die feministische Vorstellung dieses Emanzipationsmodells eine „universelle (industrielle) Maskulinisierung“ implizierte. Adamczak zeigt mit der sowjetischen Feministin Kollontai auf, dass hier die Frau ihre Gefüle zu besiegen hatte. „Die ökonomische Transformation führte dann zu einer affektiven Transformation. Trotz des hohen Arbeitsaufwands erlaube die traditionelle Hausarbeit, sie für einen emotionalen Moment aufzuschieben, dem Bedürfnis, sich auszuruhen und auszuweinen, nachzugehen […]. Genau dies lässt die dem Gesetz der Stechuhr gehorchende Lohnarbeit nicht zu. Die Arbeiterin braucht ‚innere Selbstdisziplin‘. Sie muss lernen, ‚ihr persönliches Leben wie hinter einem Riegel‘ zu verbergen (Kollontai). Die Konsequenz ist logisch: andere Arbeitsökonomie, andere Zeitökonomie, andere Affektökonomie. Eine heteronome, abstrakte, statische Arbeit führt zu einem kontrollierten, rational-verlässlichen, gefühlsbeherrschten Subjekt“. In dem Moment, wo der „Kampf der Krankenpfleger_innen“, ein noch immer deutiche Domäne weiblicher Lohnarbeit, unisono eingegliedert wird in einen allgemeinen antikapitalistischen Kampf, der ihn wiederum nur „begleitet“, wird eine Homogenisierung feministischer Kämpfe, eine Subsumption dieses vermeintlichen Neben- unter den Hauptwiderspruch von Arbeit und Kapital vollzogen und dabei die Besonderheit der ‚Care-Ökonomie‘ (zugunsten der Idealisierung industrieller Produktion) paternalistisch übergangen. Wie tief verankert die vergeschlechtlichen Rollenvorstellungen im Aufruf sind und wie antiquiert das Bewusstsein der Schreiber*innen sein muss, zeigt sich daran, wie der nachfolgende Satz gegendert ist: „Den Kapitalisten wurde deutlich gezeigt, zu welch einer Dynamik Arbeiter_innen in der Lage sind.“ Das ist im Text keine Ausnahme. So wird zwar „Krankenpfleger_innen“ gegendert, nicht aber „Rechtspopulisten“. Der einfache Manichäismus bricht sich Bahn.
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Auch der Rassimus unterliegt hier dem Haupt-Nebenwiderspruchsdenken. So ist die größte Sorge in dem entsprechenden Absatz des Aufrufs, dass die „Rechtspopulisten […] [m]it ihrer rassistischen Hetze gegen Geflüchtete […] die arbeitende Klasse [spalten].“ Super, wenn also das Proletariat vereint ist, hebt sich (neben allen anderen Diskriminierungen) auch ganz einfach der Rassismus auf, da der Keil zwischen Stammbelegschaft und (häufig migrantischen) Zeitarbeiter*innen einzig von den Kapitalist*innen ‚da oben‘ eingetrieben wird. Der/die gemeine – ideale und reine – Arbeiter*in kann also gar kein/e Rassist*in sein! Zwar bietet die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie einen Begriffsapparat, der die Abwertung ‚der Anderen‘ aus den ökonomischen Grundkategorien zu erklären vermag, wer sie allerdings ganz einfach ableiten will, begeht einen empiristischen Kurzschluss. Von Antisemitismus ist übrigens selbstverständlich erst gar keine Rede: Er wird als eine Spielart des Rassismus verkannt, genauso wie der Kampf „gegen Faschismus“ alles in einen großen Topf wirft („Nein zu Rassismus und Faschismus!“). Wie armselig dieser verkürzte Anti-Imp-Sprech ist, sollte eigentlich jeder*m ins Auge springen. Stattdessen werden allerdings auf jeder Demo hier in der Region, so auch gestern bei der Afrin-Demo in Mannhein, die alten nationalbolschiwistischen Parolen und Floskeln in den Reden bedient. Während die ganze Zeit von imperialen Mächten in Syrien geredet wurde, wurden die USA, die Türkei und Saudi Arabien in Dauerschleife angeprangert, in keiner Silbe jedoch die iranischen und russischen Militäroperationen, die Assads fortgeführte Herrschaft erst ermöglichen. Ja, Assads Giftgaseinsätze sogar vom Lauti-Wagen durch den Anmelder bagatellisiert. Die kurdische Community (so auch die DIDF-Jugend, die Mitunterstützr*in des Aufrufs zum 1. Mai ist) macht sich hier, gegebenenfalls auch aus Mangel an Alternativen seitens anderer Unterstützer*innen, zum politischen Spielball. Anders lässt sich kaum erklären, warum eine derart stumpfe Rhetorik bedient wird, die sogar kurdische Eigeninteressen unterläuft: Gerade Russland drängte vor der türkischen Invasion darauf, das Kanton komplett an Assad zurück- und die kurdische Autonomie damit aufzugeben, wozu die YPG (respektive der PYD) aus guten Gründen nicht bereit war. Die syrischen Kurd*innen wurden eben nicht nur von den USA, von denen sie im Kampf gegen den IS zumindest noch militärisch unterstützt wurden, sondern auch von Russland, das mit Assad paktiert und ihm gegenüber keine Autonomiegewährleistung für die Kurd*innen durchzusetzen bereit war, im Stich gelassen.
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Was im Aufruf (neben alldem aufgezeigten) ebenfalls drinsteckt, ist eine orthodox-marxistische „Kritik vom Standpunkt der Arbeit“ (Postone), also ihre Verwirklichung anstelle ihrer Abschaffung, wie es eine progressive kommunistische und emanzipatorische Linke zu leisten hätte. Zwar wird eine „radikale Arbeitszeitverkürzung“ gefordert, nirgends jedoch das Joch der Arbeit selbst kritisiert. Die personalisierende Zuschreibung gesellschaftlicher Verhältnisse („Den Kapitalisten wurde deutlich gezeigt…“) ist bereits deutlicher Vorschein einer regressiven Kapitalismuskritik.
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Nein, nein, das ist nicht mal nur kein Kommunismus, sondern eben auch keine progressive Kapitalismuskritik!

German Übereifer

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In der Disko der Jungle World wurde kürzlich über die deutsche Erinnerungspolitik debattiert. Diese Diskussion erfasste zwar durchaus einige ihrer aktuellen Momente, jedoch fehlten andere Teile dieses Gegenstands, die hiermit ergänzt werden sollen. Der Beitrag German Gedenken(1) von der Antideutschen Aktion Berlin (ADAB) reicherte zunächst zentrale Thesen Eike Geisels mit aktuellen Bezügen an. Geisel zufolge wird eine »neue Lust am historischen Schuldbekenntnis der Deutschen« dadurch geweckt, dass sich das »Shoahbusiness« inzwischen besser denn je vermarkten lässt. Die ADAB zeigt, wie der dahinterstehende Eifer, mit Sigmar Gabriels (SPD) Stolz auf das internationale Renommee des ›Erinnerungsweltmeisters‹ schwanger geht. Der Auschwitzüberlebende Georg Brady bezeichnete dies im Tagesspiegel vor wenigen Jahren treffend mit den Worten: »Es ist verrückt, wie sich die Dinge umkehren. Vor 70 Jahren wollten sie mich umbringen, jetzt ehren sie mich.«(2) Wohl spätestens seit Schröders Staatsantifaschismus, den Geisel selbst nicht mehr erlebte, ist nun, wie Katrin Antweiler in ihrer Replik(3) auf die ADAB schreibt, der Patient im internationalen Erinnerungsdiskurs »geheilt«. Zwar wollen die Deutschen sich ihr Auschwitz noch immer nicht wegnehmen lassen und es habe, wie Geisel schrieb, gefälligst deutsch zu bleiben. Aber die Vorzüglichkeit des Wesens deutscher Erinnerungskultur darf sich international gern generalisieren, so dass alle anderen daran genesen dürfen. Jedoch was bedeutet das schon, ein »geheilter Patient«? Dass von diesen nun vermeintlich ›zukunftsorientierten‹, ›versöhnlichen‹ und ›universalistischen‹ Deutschen, die »Hand in Hand mit dem restlichen Europa und allen anderen« gehen, nun keine Gefahr mehr zu erwarten sei, nur weil sie sich politisch zivilisiert und ökonomisch konsolidiert haben? Das stimmt mit Blick auf Deutschlands gegenwärtige Hegemoniebestrebungen wohl weniger denn je seit der Niederschlagung des Nationalsozialismus. Erste Anzeichen, was diese Hegemonie auch erinnerungskulturell noch stärker als erinnerungspolitisch bedeuten mag, lassen sich unlängst am German Übereifer ablesen, der zusehends über die rein ökonomische Kalkulation in Richtung des Irrationalen hinaustreibt. Dies liegt wohl daran, dass sich Kunst wie Kultur zumindest nicht zwangsläufig den ökonomischen Zwängen anzubiedern haben, wenn Deutschland stark genug ist.

Der Leitartikel Deutscher Übereifer in der diesjährigen Februarausgabe der KUNSTZEITUNG könnte sich schon bald als idealtypisch-zeitgenössisches Dokument dieses sich hinter vermeintlicher ökonomischer Kalkulation versteckten Revisionismus erweisen, der die »nachkriegsdeutsche Kosten-Nutzenanalyse« zur neuen »Beseitigungswut gegenüber der Erinnerung« (Geisel) werden lässt.(4) Verleger Karlheinz Schmid beklagt im Leitartikel jenen »deutschen Übereifer, der sich zunächst in einer inflationär wirkenden Zunahme einer Erinnerungskultur äußert, die teils groteske Züge annimmt«. Sie erwecke – fast schon eine rhetorische Hommage an Geisels »nationale Wiedergutwerdung der Deutschen« – den Anschein, »dass diese Nation mittlerweile nichts mehr unversucht lässt, […] in jedem Kleingartenverein zu ermitteln, wo es noch eine Opfergruppe geben könnte, derer zu gedenken wäre« (Schmid). Scheinbar lebt in dieser »deutsche[n] Kritische[n] Theorie« (Geisel) der außenpolitische Traum nach mehr »Lebensraum im Osten« samt seiner libidinösen Energie in sublimierter Form im Inneren, genauer in der Stadtpolitik des Herzens der deutschen Republik fort: Insbesondere unter Bezugnahme auf das Holocaust-Denkmal in Berlin schreibt Schmid: »Da werden Wettbewerbe ausgeschrieben, Millionen Euro verbaut, um Jahre später, ganz ängstlich, erkennen zu müssen, dass man den Stadtraum völlig dicht gemacht hat. Teils mit Schrottkunst, aus heutiger Sicht.« So müllen wir Deutschen also nur wegen unseres Vergangenheitskomplexes gegenüber den Jüdinnen und Juden unsere Städte zu. Die rund 1,3 Millionen Baudenkmäler jeder Art »sind Ausdruck eines deutschen Traumas, sich für Unrecht vorausgegangener Generationen entschuldigen zu müssen, die dunkle deutsche Vergangenheit politisch korrekt aufpolieren zu wollen« und vom »Krampf im Denken und Handeln« (Schmid). Während Geisel in Bezug auf die Pläne zum Mahnmal, dessen Eröffnung er selbst nicht mehr erlebte, noch den deutschen Arbeitseifer polemisch mit der »Fähigkeit zu Mauern« auf den Punkt brachte und es zur »nationale[n] Kuschelecke« stilisierte, beklagt Schmid lieber die Instandhaltungskosten, so dass selbst die symbolischen Akte, welche neben der Rehabilitation der Deutschen zugleich die weitestgehend ausgebliebenen materiellen zu überdecken hatten (siehe den Artikel der ADAB), zusammen mit den Betonklötzen Berlins brüchig werden. Plötzlich wird aus der liberalen Vorstellung des Äquivalententausches, nach welcher auch das politische ›Image‹ Deutschlands im internationalen Konkurrenzkampf um die höchste Absatzrate noch vor dem Tauschakt bestmöglich zu promoten sei, wieder ein manifester Kulturkampf. Nur wegen des Vergangenheitskomplexes der Deutschen werde der Rückbau der Denkmäler »unmöglich, weil niemand den Bilderstürmer geben kann. Das wäre politischer Suizid.« (Schmid) Im selben Jargon entdeckt Schmid in der Diskussion um das Freiheits- und Einheitsdenkmal in Berlin, welches »vom Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages, der längst Kulturpolitik macht«, »aus Kostengründen abgesagt« wurde, ein »entlarvendes Beispiel« für die Fehlkalkulation der nachkriegsdeutschen Kosten-Nutzen-Analyse. Zwar kritisiert Schmid auch das »sudetendeutsche Aufbegehren« für »ein konzeptionell längst überholtes Dokumentationszentrum in Sachen Flucht, Vertreibung und Versöhnung«, weil insgesamt die »nicht enden wollende Erinnerungskultur […] den scharfen Blick nach vorn« vernebele, was zunächst die These zur »zukunftsgerichteten Politik« (Antweiler) bestätigen würde. Allerdings verfestigt dieser Versuch der vermeintlichen Überwindung der deutschen Geschichte immer wieder die Idiosynkrasie. So setzt Schmid sämtliche historischen Ereignisse in relativierender Weise unterschiedslos gleich, wie er gleichermaßen die Differenz von Erinnerung und Aufklärung nicht zu ziehen vermag: Den marginalen Betrag von »fünf Millionen aus dem 1,6-Milliarden-Zuwendungsbeutel der Staatsministerien für das Bundesarchiv, um die NS-Vergangenheit deutscher Ministerien und Behörden aufzuarbeiten«, kritisiert er in einem Atemzug mit den 50 Millionen für die sudetendeutschen Revisionistinnen und Revisionisten. »Der deutsche Denkmal-Wahnsinn in Sachen Freiheit und Einheit […] verpulver[t] […] unser Steuergeld.« Aufgrund solcher Relationen kann man selbst beim besten Willen, Schmids Kritik noch eine rein ökonomische Rationalität zu unterstellen, nur noch dem brüllenden Irrationalismus in den Rachen schauen. Sein Schrottrecycling argumentiert innenpolitisch auf angeblicher Basis von Kostenkalkulationen, er streift dabei sogleich die bisherige Notwendigkeit ab, das NS-Aufarbeitungs-Image aufzupolieren und es weiterhin als zentralen Faktor einzubeziehen.

Die Vermarktung des Gedenkens, seine Verfügbarmachung im Rahmen einer ökonomischen Rationalität, wonach »moralische Attitüde und politisches Kalkül jene Verbindung ein[ging], die im neuen Bewährungshelferidiom mit der Standardformel ›Gerade wir als Deutsche‹ ihren rhetorischen Dauerausdruck« (Geisel) findet, setzte in der Vergangenheit eine historisch-spezifische Situation voraus. Zum einen verlangte sie eine ausreichende ökonomische Konsolidierung Deutschlands, wie sie zunächst u.a. das sog. Wirtschaftswunder nach dem unmittelbaren Post-NS-Taumel mit sich brachte, um so den revisionistischen Kräften etwas entgegenhalten zu können. Zum anderen durfte noch keine europäische wie internationale Vormachtstellung in Aussicht stehen oder gar gegeben sein, wie es bis zur Wiedervereinigung der Fall war. Geisel zeigt in seinem Zitat mit Blick auf die Opfer, dass dieses sog. »Bewährungshelferidiom« eine gedoppelte Bestrafung der überlebten Jüdinnen und Juden war, die nach ihrer Erfahrung der Shoah nun noch ein zweites Mal herangezogen werden, um der »Heilung des Patienten« und »nicht dem Gedenken an die Opfer« zu dienen. Nun ist diese Form der »Ritualisierung des Gedenkens an die Shoah« nicht als einmal erreichte, ahistorische Konstante, die zwar irgendwie unangenehm, aber doch erträglich für die Opfer ist, zu verstehen, sondern kann sich, sobald sich ein günstiger Moment zur pathischen Projektion bietet, gegen diese Opfer stets wieder wenden. »Denn in Wahrheit hat die Massenvernichtung bewiesen, […] daß ein derartiges Verbrechen langfristig gut ausgeht und sich nicht nur in Exportquoten, sondern auch […] in Kultur auszahlt.« (Geisel) Zum ehrwürdigen Gedenken waren den Deutschen die Jüdinnen und Juden schon immer ein Splitter im Auge, der ihnen als Vergrößerungsglas dienend ihr eigenes Leiden und ihren Schmerz erst richtig offenbart. »Je heftiger sie sich mit toten Juden beschäftigten, desto lebendiger wurden sie selbst. […] ›Die Juden sind unser Glück.‹ Denn was wäre ohne sie aus der Endlösung der deutschen Frage geworden?«, diagnostizierte Geisel noch Anfang der 1990er Jahre. Der Faktor ›Jude‹ war in der Kalkulation dieses ›Glücksmoments‹ nur so lange entscheidender Teil der Bilanz, wie die deutsche Frage noch nicht geklärt war. Ihr lag das »übermächtige kollektive Verlangen, den Prozeß der nationalen Rehabilitierung der Deutschen als Deutsche endlich zum Abschluss zu bringen« (Geisel), zugrunde, was letztlich in der Deutschen Revolution von 1989 kulminierte. Noch ein Jahr vor diesem Ereignis, zur zentralen Gedenkveranstaltung anlässlich des 50. Jahrestages der Reichspogromnacht am 9. Nov. 1988 in der Frankfurter Synagoge hatte zwar eine »neue deutsch-jüdische Symbiose« stattgefunden, diese Zeremonie krankte allerdings noch daran, dass hier noch Juden und Jüdinnen im Spiel waren. Schon ein Jahr später war das Problem soweit behoben – »nun fielen sich nur rein Deutsche in die Arme.« (Geisel) Dass noch einige Jahre nach der sogenannten »Wende« vorwiegend das ökonomische Kalkül die Erinnerungspolitik beherrschte, ist wohl dem Umstand geschuldet, dass die Deutschen zwar mit erhobenem politischen Haupt, jedoch mit deutlichen Einbußen im Geldbeutel aus diesem Wende-Taumel hervortraten.

Die deutsche Ideologie ist seit jeher dadurch gekennzeichnet, eben über die rein ökonomische Rationalität hinaus in einen tendenziell destruktiven Irrationalismus zu treiben, sobald die historische Situation es politökonomisch zulässt und die Mittel dafür zur Hand sind. Deutschland als Krisengewinner und neuer europäischer Hegemon stellt eine Gefahr dar, die sich auch – oder gerade – im Kulturbetrieb der Kulturnation niederschlägt: Wenn Björn Höcke (AfD) also in seiner Dresdener Rede vom 17. Januar dieses Jahres das Holocaust-Mahnmal als »Denkmal der Schande« bezeichnete, was nun AfD-intern zur Einleitung eines Ausschlussverfahrens führte und wohl als ihr letzter Versuch gewertet werden kann, den bürgerlichen Schein doch noch irgendwie zu wahren, wird dies in der Politik wie in den Medien zu einem Eklat ersten Ranges aufgebauscht. Was Höcke sagte – und das kratzt am Stolz der Deutschen – stellt jedoch in Bezug auf den historischen Gegenstand des eliminatorischen Antisemitismus eine Wahrheit dar, wie auch Walser 1998 mit seiner »Dauerpräsentation der Schande« ex negativo den Kern der Sache traf. Der immanente Widerspruch, dass Auschwitz sich eben nicht so ohne weiteres rationalisieren und kommodifizieren lässt, provoziert das deutsche Gemüt von links bis rechts. Diese Idiosynkrasie erst lässt die heftigen Aggressionen bis hin zu »Morddrohungen wegen Trivialitäten«(5) (Bergmann) folgen. Dass der »Heilungsprozess abgeschlossen« (Antweiler) sei und das »ritualisierte Gedenken« lediglich »einer regelmäßigen Vergewisserung« dessen diene, verkennt einerseits, dass eine wirkliche Heilung innerhalb des falschen Ganzen nicht abgeschlossen werden kann. Andererseits können sich sogar Psychotiker und Psychotikerinnen eine ganze Weile unbemerkt innerhalb dieses Falschen bewegen. Demnach ist Geisel zumindest dahingehend zu widersprechen, dass in Deutschland die höchste Form des Vergessens das inflationäre Erinnern sei: Es gibt auch noch die Abrissbirne, die der deutschen Wertarbeit ohnehin noch näher steht als das Mauern. Der (noch) subtile Revisionismus der »Kulturnation Deutschland« und der gleichsam rauere Wind ihrer Erinnerungspolitik sind dabei eingebettet in den international beobachtbaren Rekurs auf nationalkapitalistische Abschottungspolitik. Die einstigen Imagekampagnen scheinen vorüber zu sein. Der politisch wie ökonomisch starke Hegemon bedarf der ökonomischen Rationalität nur noch insofern, als dass sie den Schein des offensichtlichsten Irrationalismus zu verdecken vermag. Plötzlich sind wir zwar »Erinnerungsweltmeister« (Geisel), aber zugleich auch wieder handfeste »Weltmeister im Basteln an der eigenen (Schuld-)Vergangenheit« (Schmid).

Achard Rieus

Zuerst erschienen in: CEE IEH #240 (https://www.conne-island.de/nf/240/3.html)

 

Anmerkungen

(1) http://jungle-world.com/artikel/2017/05/55672.html
(2) http://www.tagesspiegel.de/kultur/holocaust-ein-bruder-erinnert-an-seine-ermordete-schwester/8016236-all.html
(3) http://jungle-world.com/artikel/2017/07/55752.html
(4) Die KUNSTZEITUNG, seit 1996 immerhin mit einer Auflage von 200.000 Exemplaren (und damit in etwa fünffacher Menge zu den Verkaufszahlen der KONKRET und zehnfacher zu den wöchentlichen der Jungle World) monatlich in Karlsruhe vom Verlag Lindinger + Schmid produziert, betreibt laut ihrem Selbstverständnis »kritischen und unabhängigen Journalismus«. Ihrer Homepage ist zu entnehmen, dass »rund 1800 Museen, Kunsthallen, Kunstvereine, Galerien, Hochschulen, Hotels, Buchhandlungen, Bibliotheken, Unternehmen und Institutionen vor allem in Deutschland, Österreich und der Schweiz helfen, die Kunstzeitung zu verbreiten.« Ihre Verleger Gabriele Lindinger und Karlheinz Schmid wurden im Jahr 2006 mit dem Award Kunstmediator, einer Auszeichnung der österreichischen IG Galerien (Interessengemeinschaft Galerien für zeitgenössische Kunst) honoriert.
(5) http://jungle-world.com/artikel/2017/06/55700.html

 


Gegen die Verwirrungen des Infoblatts – Eine Replik auf die Wirren des alten ‚Genossen‘

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Stadtreinigung Mannheim

Von Achard Rieus

Zum Hintergrund: Die Redaktion der Kommunal-Info Mannhein publizierte im Februar einen Bericht (Reinhard Gebhardt – Persönliche Nachbetrachtung zum Kongress gegen den neuen Rechtsruck). Auf diesen schrieb ich einen Kommentar unter dem Titel „Gegen die Verwirrungen des Infoblatts – Eine Replik auf die Wirren des alten ‚Genossen‘“, da ich der Meinung war (und bin), dass die ‚Redaktion‘ aus mehreren Gründen nicht hätte publizieren dürfen. Die ‚Redaktion‘  verweigerte meine Replik unter dem Vorwand, dass „das Kommunal-Info nicht zur Verfügung steht […] [für] Meinungen, die sehr stark oder gar überwiegend auf die Person von Diskutanten eingehen. Aus solchen Meinungsbeiträgen entwickelt sich nach aller Erfahrung kein sachlicher Diskurs, sondern es kommt zu zunehmend ins Persönliche gehenden Chats. Dafür ist fb das geeignete Medium, wenn man denn schon diese Form der Auseinandersetzung pflegen möchte“, so der ‚Redakteur‘. Ich schilderte ihm daraufhin, dass es in der Replik nicht um eine Diffamierung oder Diskreditierung von Herrn G.gehe, sondern vielmehr um die Form, wie hier unter verdecktem Vorwand politische Propaganda betrieben wird, indem die Positionen von Herrn G. widerspruchslos stehen bleiben und ihnen innerhalb des Mediums „Kommunal-Info Mannheim“ ein Bild objektiver Wahrheit verliehen wird. Diese „Wahrheit“ hat jedoch, das wird in der Replik deutlich, mit einer emazipatorischen und die Geschichte nicht verklärenden Linken leider recht wenig zu tun. Der ‚Redakteur‘ schrieb des Weiteren: „Zunächst einmal wollen wir feststellen, dass wir uns des grenzwertigen Inhalts von Reinhard Gebhards [Klarname] Kommentar bewusst waren und sind. Wir haben ihn trotzdem als Meinung veröffentlicht. Der Name ‚Kommunal-Info Mannheim‘ soll nicht darauf hindeuten, dass hier nur Informationen mitgeteilt werden; oft sind es auch Meinungen, am besten dann, wenn es um diskursiv abzuhandelnde Themen geht.“ Die“[p]ersönliche Nachbetrachtung zum Kongress gegen den neuen Rechtsruck“ von Herrn G. hat jedoch in keiner Silbe etwas mit dem Kongress selbst zu tun, so dass das „diskursiv abzuhandelnde Thema“ durch seinen Beitrag vom Kongress entkoppelt wurde und sich auf seine neu gesetzten Themen verschob. Mir wurde seitens der ‚Redaktion‘ die Möglichkeit eröffnet, etwas zu „Meinungen, Interpretationsversuchen, Strategievorschlägen zum AfD-Syndrom“ zu schreiben. Wäre dies ihr Anliegen gewesen, dann hätte sie allerdings den Beitrag von Herrn G. nicht veröffentlichen dürfen. Dazu schreibt er nämlich rein gar nichts. Mir dann dieses Thema vorzugeben, nicht aber zur regressiven Kapitalismuskritik von Herrn G. Stellung beziehen zu dürfen, gleicht einem Maulkorb. Wenn sich die „Redaktion“ also dazu „entscheidet“, den „grenzwertigen Inhalt“ von Herrn G. zu publizieren, ist ihr von vornherein bewusst, dass ein solcher Beitrag Gegenreaktionen hervorrufen kann. Diese dann zu verweigern bedeutet, dass sie mit den orthodoxen, leninistischen Positionen d’accord geht, während ihr unliebsame Positionen, die eben keine Sowjetnostalgie und einen platten Antiamerikanismus lobpreisen, nicht in den Kram und in ihr Verständis einer linken Bewegung passen. So viel zu Streitkultur, Kritik und dialektischem Denken.

Hier nun meine besagte Replik auf Reinhard Gebhards Kommentar:

 

In seiner „persönlichen Nachbetrachtung zum Kongress gegen den neuen Rechtsruck“ macht sich Reinhard G. leider nicht einmal die Mühe, auch nur ansatzweise auf jenen Gegenstand einzugehen, den er zu betrachten vorgibt, nämlich die Inhalte des besagten Kongresses. Ein solches Vorgehen scheint bei ihm Programm zu sein, denn ebenso wenig machte er sich während des Kongresses selbst die Mühe, sachlich die angesprochenen Themen zu diskutieren. Stets nutzte er seine Wortmeldungen, um Ko-Referate zu halten und sich ungefragt Raum für seine propagandistischen Phrasen zu nehmen.

Im klinischen Kontext sind Therapeut_innen aufgrund ihres respektablen Berufsethos häufig versucht, selbst bei Psychotiker_innen einen rationalen Kern in der Sinngebung zu unterstellen und diesen ernsthaft zu entschlüsseln. Freud begab sich bspw. auf jenes Glatteis, als er die Kindheitsphantasien seiner Patient_innen allzu ernst nahm und auf deren phantasmagorischen Entstellungen ausrutschte. Dies führte bei ihm zu einem kategorischen Wandel in seinem Denken. Mit den Wirren des alten G. verhält es sich ein wenig ähnlich wie bei den oben genannten Patient_innen. Hier soll daher gar nicht erst versucht werden, das dahinterliegende ‚System‘ zu entschlüsseln – es liefe letztlich auf einen simplen und widerspruchslosen Manichäismus hinaus, bei dem immer schon klar ist, wer die Guten sind. Es sollen daher vielmehr nur jene wohl offensichtlichsten Momente der Derealisation des ‚Genossen‘ kurz dargelegt werden:

G. bezeichnet in seinem Kommentar die AfD unterschiedslos als „völkisch“, was für einen Teil der Partei (den „Höcke-Flügel“) gewiss zutrifft, aber terminologisch den Kern der Partei deutlich verfehlt: Die jüngste (wiederholte) Auseinandersetzung um den Parteiausschluss von Höcke muss man schon aktiv missachten, wenn man solch pauschalisierende Aussagen trifft. Letztlich gibt es für G. nur Faschismus und das sozialistische Heilsversprechen. Ein Teil seiner Eingangsfragen, bei denen G. ebenfalls völlig ausufernd und unterschiedslos alles Mögliche in einen Topf wirft, möchte wissen, inwiefern „AfD und Co schon im Staatsapparat, Justiz“ etc. integriert seien. Mit „Co“ sind wohl andere „völkische“ Strömungen gemeint, worunter gewiss auch die NPD zu fassen ist. Auch hier scheint er, der Derealisation jüngster Ereignisse erneut anheimfallend, die Debatte um das Verbotsverfahren (hier verstanden als Signal der Justiz gegen die Rhetorik und den gesellschaftliche Relevanzzuwachs der AfD) wohl ebenso wenig verfolgt zu haben, wie das sozialdemokratische Distinktionsgeschwätz zur Dresdner Höcke-Rede und ihren ‚Erinnerungsstolz‘ (welchen übrigens auch der Mannheimer OB Peter Kurz zur Gedenkfeierlichkeit am 27. Januar zum Besten gab). Völlig unreflektiert ist G. noch immer im 68-er-Sprech vom „Trikont“ und dem Rollback zum autoritären „Polizeistaat“ verhaftet, ganz so, als habe er niemals auch nur Joachim Hirschs Ausführungen zum „Sicherheitsstaat“ zur Kenntnis genommen (geschweige denn verstanden): An G. geht gänzlich die sicherheitspolitische Aufrüstung restriktiver Sozialpolitik als zentraler Steuerungsmodus in Deutschland vorbei; hinter jeder Ecke lauern, leider ganz ähnlich Paranoiker_innen, Polizist_innen und Soldat_innen zur handfesten Unterdrückung der Proleten. Gewiss ist auch die Aufrüstung der Polizei (Teaser, GPS-Überwachung und Schnellfeuerwaffen in jedem Polizeiauto, so die Pläne de Maizieres) derzeit politisch nicht zu vernachlässigen, aber zwischen Loic Wacquants Analyse der amerikanischen Verhältnisse in „Bestrafen der Armen“ und der viel subtileren sozialstaatlichen Punitivität Deutschlands liegen dennoch deutliche analytische Unterschiede. Und selbst G. sollte sich die Frage stellen können, warum eben nicht um jede Ecke eine schwerbewaffnete Polizeistreife benötigt, damit die revolutionären Proleten in Zaum gehalten werden können, und der Kapitalismus dennoch weitestgehend reibungslos funktioniert. Warum es also für Sublimierung und Entsagung eben nicht die Waffe an der Stirn des Proleten und die Fußfesseln fürs Marx‘sche Lumpenproletariat braucht.

Am offensichtlichsten wird allerdings sein völlig verkürzter M-L-Manichäismus, wenn er den deutschen „Ausbau der Unterstützung völkischer, diktatorischer […] und faschistoider […] Regime“ anklagt und hierbei die Türkei und Ungarn unterschiedslos in einer Reihe mit der Ukraine nennt, was auf allen Ebenen eine Fehleinschätzung und ein falsches Verständnis bürgerlich-demokratischer Errungenschaften ist (Presse- und Meinungsfreiheit, Minderheitenrechte, Rechtsstaatlichkeit etc.), die in den besagten Ländern deutliche qualitative Unetrschiede aufweisen. Die ‚Sahnehaube‘ setzt G. auf, wenn er hier zudem zwar das durch und durch diktatorische Regime in Saudi-Arabien erwähnt, aber kein Wort über den Iran verliert. Deutsche Regierung und Wirtschaft buhlen geradezu um die Gunst dieser Klerikalfaschisten, deren Hegemonieanspruch nicht nur auf die Region des Mittleren Osten beschränkt bleibt. Ein ganz tagesaktuelles Beispiel war die Münchener Sicherheitskonferenz, an deren Rande bspw. der „Verein der Bayerischen Wirtschaft“ sofort ein Treffen mit dem Iranischen Außenminister Zarif und dem Botschafter Majedi vereinbarte. Der derzeitige deutsche Außenminister und damalige Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) konnte überdies vor gut einem Jahr kaum eine Woche verstreichen lassen, um nach Abschluss des Nuklearabkommens mit dem Iran, das löcheriger ist als jeder Schweizer Käse und daher weiterhin nur einen Zeitaufschub der Iranischen Vernichtungsdrohung gegen den jüdischen Staat darstellt, mit einer ganzen Wirtschaftsdelegation ins Land zu fliegen und zahlreiche neue Verträge in Sack und Tüten zu bringen, aus deren Geldern der Iran sein Kriegstreiben besser denn je fortsetzen kann. Während bei TTIP und CETA in jedem deutschen Kuhkaff lautstark protestiert wird, ist hierzu nirgends ein Murren zu vernehmen. Der Iran geht innenpolitisch mit voller Härte gegen jede Opposition vor – die Todesstrafen haben sich unter dem als „gemäßigt“ geltenden Präsidenten Rohani vervielfacht, Folter steht auf der Tagesordnung, Frauen, die ihre Kopftücher aus Protest enthüllen, werden verfolgt und misshandelt, Homosexuelle ermordet. Zudem rüstet der Iran die gesamte Region von den Hizbollah-Milizen im Libanon bis hin zu den Houthi-Rebellen im Jemen auf und ist mit seinen Revolutionsgarden, die längst die führende Rolle im Syrienkrieg übernommen haben (von Giftgaseinsagt bis Flächenbombardements und gezielte Angriffe auf zivile Einrichtungen wie Krankenhäuser und Versorgungstrupps), selbst im Geschehen unmittelbar beteiligt. Leider passt dies alles jedoch nicht in das festgefahrene und verworrene Weltbild des alten G., der sich wohl noch immer eine starke Sowjetunion zurückersehnt und dabei beflissentlich auch die russische Oligarchie unter Putins Federführung, ohne deren militärische Interventionen Assad selbst wohl kaum noch an der Macht wäre, idealisiert. Zumindest ist vom Iran und von Russland bei G. keine Rede, wenn er von diktatorischen und faschistoiden Regimes schwadroniert. Überhaupt scheint es bei ihm, wie oben angedeutet, nur Faschismus, der immer schon verkürzten Dimitroff’schen Formel folgend, wonach dieser die „offen terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“ sei, und das Heilsversprechen des Sozialismus zu geben. Eine terminologische Differenzierung zwischen Faschismus und Nationalsozialismus (samt seines zentralen ideologischen Elements des eliminatorischen Antisemitismus) lässt G. ebenso unberücksichtigt, wie die gesamte Diskussion der sog. „Neuen Marx-Lektüre“, für die „Wert“ nicht gleichgesetzt ist mit „Tauschwert“ und „Kapital“ nicht mit „Finanzkapital“ (o.a. „Zirkulationssphäre“) – erst recht nicht mit „Kapitalist“.

Wenn den Wirren des alten G. über eine halbe Seite dafür einräumt wird, dass er Phrasen dreschen kann, die schon vor mehr als 40 Jahren falsch waren, weil sie lediglich Plattitüden des realexistierenden Marxismus reproduzieren, aber kein Wort von der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie selbst verstehen, ist es um die Aufklärung offensichtlich recht schlecht bestellt. Hier hat „Info“ weitaus mehr mit Propaganda, die bekanntlich selbst stets fratzenhaft ist, zu tun als mit „Meinung“, welche zumindest noch im Rahmen postmoderner Beliebigkeit auch andere zuzulassen bereit ist. An G.‘s Diskussionsverhalten wird deutlich, dass bei ihm selbst die Meinungsfreiheit kein allzu hohes Gut zu sein scheint. Mit „Nachricht“, wofür „Information“ im journalistischen Sinne stehen sollte, haben diese Art von Beiträgen jedoch rein gar nichts mehr zu tun: Die Abkürzung „Info“ wird so zum gleichermaßen verkürzten Instrument der Gegenaufklärung.